• Über das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft | Teil 2

Über das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft | Teil 2

Meinem sehr geschätzten Leserkreis möchte ich zunächst den notwendigen Hinweis geben, dass dieser Newsletter eine direkte Fortsetzung des vorangegangenen ist. Deshalb empfehle ich, sich diesen noch einmal zur Hand zu nehmen und speziell den Schluss in Erinnerung zu rufen. Dort gelangte ich zu dem Bild, wie Kunst und die modernen Naturwissenschaften fortan „am gleichen Arbeitstisch“ sitzen und sich daraus die Frage ergeben kann, ob sie sich so platziert gegenseitig weiterhin das Gespräch versagen oder vielleicht eines Besseren belehrt, sich gegenseitig befruchtend neuen Horizonten zuwenden würden? Darum geht es mir nun im Folgenden.

Etwas, was mir beinahe täglich in allen Fragen und Auseinandersetzungen über die Gestaltung unserer Gesellschaften auffällt, ist, dass die Beteiligung der Künste an derartigen Prozessen nie stattfindet. Sie scheinen nicht dazu zu gehören, obwohl doch gerade sie es sind, bei deren Ausübung der einzelne Mensch sich selbst, also seinem Selbst, so nahe ist wie in keinem anderen Bemühen. Nirgendwo erfährt er so viel über sich selbst als im Kunstschaffen! Hier zeigt er sich als ein selbstschöpferisches Wesen, welches sich selbst im Kunstwerk stets auch neu entwirft. Er betreibt darin eine Art von geistigem Anarchismus: immer bereit, alles Bisherige fallen zu lassen und gleichsam stets bei null neu anzufangen, um sich einem Vollendeterem zu zu wenden und so sein „Leben zum Besseren zu führen“ (Kant).

Kunst wird von Menschen für Menschen gemacht und nicht für Kunstmessen, den Kunstmarkt, auch nicht für Museen, Galerien, Sammlern und Medien.

Die Kunstkraft des Menschen als die formende Kraft seiner Vernunft befindet sich in der Mitte zwischen der wahrnehmenden Kraft seiner Sinne und der Kraft zum Begrifflichen seines Verstandes.

  • der wahrnehmenden Kraft der Sinne
  • die Kunst als formende Kraft der Vernunft
  • der Kraft zum Begrifflichen des Verstandes

Die Vernunft wiederum ist die Mutter der Verantwortung: sie ver-antwortet, gibt die dem Menschen gemäßen Antworten, immer situationsabhängig, ganz nah und auf Freiheit zielend. Deshalb kann weder die Kunst noch die Verantwortung einem Zweck zugeordnet werden. Doch gerade das trägt ihr den Makel der Unbrauchbarkeit ein. Also dasjenige, was ihre beste Kraft ist, Formen von Freiheit zu schaffen, macht man ihr zum Strick, ebenso wie man mit dem Schönen (nicht zu verwechseln mit der Schönheit) verfährt: es sei nur Schein und deshalb nichts Festes und Brauchbares. Man gewahrt gar nicht, dass der Schein des Schönen niemals trügt, sondern die Menschen zum Leuchten bringt als „die Krönung der Natur“ („Die Schöpfung“, Oratorium von Joseph Hayden, 1732 – 1809). Neurologen bestätigten längst, dass Menschen ohne das Schöne nicht überlebensfähig sind.

Ich bin davon überzeugt, dass die weltweit herrschende Klimadebatte ohne die Beteiligung der Kunstkraft der Menschen weiterhin zu nichts führen kann. Hier geht es doch darum, zu verhindern, dass der Mensch die ihm geschenkte Erde und damit sich selbst nicht zerstört. Es geht nur um ihn, nicht um die Erde, sondern um sein Verhalten zu ihr. Daher muss er ganz nah bei sich sein, um dazu notwendige Erkenntnisse aus sich selbst heraus zu gewinnen. Wie vorher erklärt, ist er sich selbst in keinerlei Weise so nah wie in der Kunst. Doch die Debatte wird allein beherrscht vom Machtstreben vorrangig aus der Sphäre der Ökonomie. Ohne Kunst kann das nur schief gehen, weil wir so die Herzen der Menschen nicht gewinnen können. Die müssen wir jedoch erreichen, denn nur auf diesem Wege können die Menschen erleben und verstehen, worum es überhaupt geht.  

Nach diesen einleitenden Gedanken, die ich am Ende wieder aufgreifen werde, möchte ich zur „Kunst und Naturwissenschaft“ zurückkehren, die am gleichen Arbeitstisch aufeinander trafen, beziehungsweise vor gleichen Phänomenen stehen, fragend nach dem Wirklichen? Dazu geht die Kunst von Vorstellungen aus, endet ganz materiell im gemachten, haptischen Kunstwerk und zeigt eine eigene neue Wirklichkeit. Die Naturwissenschaft geht von der gegebenen materiellen Welt aus und formuliert Vorstellungen einer neuen Wirklichkeit. Beide treten sich misstrauisch gegenüber aus scheinbar unüberwindlichen Gegensätzen.

Um ein Beispiel zu geben, greife ich zu einer Schrift des Physikers Max Planck (1858 – 1947), welcher als Begründer der Quantentheorie gilt und dafür im Jahre 1918 den Nobelpreis erhielt. In seinen späteren Jahren widmete er sich immer mehr philosophischen und religiösen Themen wie auch als ausgebildeter Musiker musiktheoretischen Fragen zum klanglichen Unterschied zwischen natürlicher und temperierter Stimmung (lat. temperare = mischen im Sinne von mäßigen, mildern: einige Intervalle temperiert mischen. z.B. J. S. Bach „Das wohltemperierte Klavier“). Als Naturforscher war er davon überzeugt, dass sowohl die Naturwissenschaft als auch die Religion (welche Gegensätze!!) für das Leben der Menschen notwendig sind. Sie dürften nicht getrennt sein. In seiner Schrift aus dem Jahre 1937 „Religion und Naturwissenschaft“, bekennt er: „Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum Erkennen, die Religion braucht er zum Handeln“ (Leipzig 1938, S. 331 – 332).

 Max Planck

Max Planck (Quelle: Universetoday.com)

 „Im Gegensatz dazu [der Methodik des religiösen Menschen] ist für den Naturforscher das einzig primär Gegebene der Inhalt seiner Sinneswahrnehmung und den daraus abgeleiteten Messungen. Von da aus sucht er sich auf dem Wege der induktiven Forschung [die induktive Forschung geht von einem beobachteten Ereigniss aus, um daraus eine allgemeine Aussage abzuleiten, bis hin zu einer Theorie] Gott und seiner Weltordnung als dem höchsten, ewig erreichbare Ziele nach Möglichkeit anzunähern. Wenn also beide, Religion und Naturwissenschaft zu ihrer Bestätigung des Glaubens an Gott bedürfen, so steht Gott für die eine am Anfang, für die andere am Ende alles Denkens. Der einen bedeutet er das Fundament, der anderen die Krone des Aufbaues jeglicher weltanschaulicher Betrachtung …

Die vollendeste Harmonie und damit die strengste Kausalität gipfelt jedenfalls in der Annahme eines idealen Geistes, der sowohl das Walten der Naturkräfte als auch die Vorgänge im Geistesleben des Menschen bis ins Einzelste und Feinste in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft durchschaut.“

Planck zeigt, wie Glauben (Religion) und Wissen (Naturwissenschaft) ihrer Art nach nichts Gegensätzliches verfolgen. Er führt uns die wünschenswerte Vereinigung vor, etwas ganz anderes, als dass die Religion „Opium des Volkes“ sei (das Zitat wird fast immer falsch wiedergegeben – als „Religion ist Opium fürs Volk“), wie es Karl Marx (1818 - 1883) behauptet in der Einleitung seiner Schrift: „Zu Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1843/44), in welcher er Religion auf die politischen Zustände der Gesellschaft zurück zu führen versucht, beziehungsweise das Religiöse aus dem Gesellschaftlichen heraus entwickelte und es nicht von Außen beispielsweise durch die Lehren der Kirchen in die Gesellschaft hinein getragen wird.

Der Nobelpreisträger für Physik, Werner Heisenberg (1901 - 1976), welcher das Werk Plancks weiter entwickelte, hält im Grundsatz an dessen Gedanken fest und spricht in diesem Zusammenhang zwar nicht von Gott, sondern von einer existierenden „zentralen Ordnung“. Beide zeigen, dass es die Trennung von Glauben und Wissen nicht geben kann.

Der Künstler nun setzt zwischen die Pole, Glauben und Wissen, die Brücke der Phantasie. Sie ist im Vergleich zum Wissen grenzenlos, zielt damit auf die Freiheit des Menschen und ist dem Wissen in seiner Begrenztheit weit überlegen.

Der griechische Philosoph Aristoteles (384 - 322 v. Chr.), welcher gleichsam alle menschheitlich relevanten Fragen bereits bis für unsere Zeit gültig und damit verbindlich gestellt hatte, machte zum Verhältnis von Göttern (Religion) und dem stets nach selbsterworbenen Wissen strebenden Menschen (Wissenschaft) einen praktischen Vorschlag. Er teilte die Schöpfung in zwei Bereiche ein: der eine liegt im Dunklen hinter dem Mond und der andere für die Menschen sichtbar im von der Sonne erleuchteten hellen Bereich. Im dunkeln Bereich konnte alles das geschehen, was der Wille der Götter ist. Mit dem hellen Bereich vor dem Mond sollten sich die Menschen beschäftigen und ihrem Wissensdrang freien Lauf lassen.

In der englischen Sprache lebte diese Trennung anscheinend fort. Sie unterscheidet zwischen „Sky“ und „Heaven“. Im „Heaven“ walten die Götter, im „Sky“ forscht die Intelligenz der Menschen.

Doch diesem Verhältnis und den daraus fließenden Freiheiten setzte das Christentum einen Riegel vor. Der Kirchenvater Augustinus (354 – 430 n. Chr.) lehrte in seinem Werk „Bekenntnisse und Gottesstaat“ das sogenannte „Curiositas Verbot“, das Verbot der Neugierde. Der einzelne Mensch solle nicht nach mehr Erkenntnissen streben, als er für sein persönliches Leben brauche. Alles Weitere überschreite die geltende Mäßigung und wäre damit gottlos.  Für Augustinus bedeutete dieses Verbot ein gegen die antike Philosophie eingeführter Kampfbegriff. Für die Künstler, vorrangig den Bildhauern bedeutete dies das Ende des antiken Formenkanons und das Verbot von Darstellungen unbekleideter menschlicher Körper. Das Studium der menschlichen Figur erlosch und damit auch neue Erkenntnisgewinne über den Menschen.

Erst im 17. Jahrhundert wurde vor allem durch Galileo Galilei (1564 – 1642) die Curiositas abgewiesen und die menschliche Neugierde wieder ganz bejaht.

Sie sehen am Beispiel von Religion und Naturwissenschaft, dass einerseits die Trennung von beiden nicht richtig ist und andererseits, dass es Jahrhunderte brauchte, um diesen Irrtum zu erkennen. Jedoch wurde er damit noch lange nicht korrigiert. Im Gegenteil!

Wie ein scheinbar nicht zu unterdrückendes Vermächtnis ist uns aus dem Vorschlag des Aristoteles bis heute etwas geblieben: eine nicht zu umgehende Neugierde nach dem, was „hinter einer Sache steckt“ (die dunkle Seite des Mondes!). So möchten wir intuitiv immer über den Horizont hinausschauen, um zu sehen, was danach kommt! Wir erklimmen einen Berg und wie von selbst bedrängt uns die Frage, was nun hinter dem vor uns liegenden nächsten Berg sein möge? Und dann wiederum hinter diesem, jenem und dem weiteren usw. Es ist die Hintergrundschicht, die uns magisch anzieht, neugierig macht und unsere Phantasiekräfte antreibt. Die Phantasie als Triebkraft der Neugierde!

In unseren Volksmärchen geht es da oftmals um eine Tür, die nicht geöffnet und das dahinter Liegende nicht offenbart werden darf.

Nebenbei entstand auf diese Weise auch eine negative Variante des Hintergrundes: die Sphäre des „Gerüchtes“. An ihm ist nichts beweisbar Wahres. Das einzig Wahre an ihm ist die Tatsache, dass es sich verbreitet. Heute tritt es im Gewand von Verschwörungstheorien auf und wirkt! Doch es befriedigt auf dunklem Wege unsere gesunde rastlose Suche nach dem, was sich hinter einer Sache verberge.

 

Diese Suche nach der Hintergrundschicht führte seit Leonardo da Vinci (1452 - 1519) zu einer bedeutenden umwälzenden Entwicklung in der Malerei durch die Entdeckung des Raumes, dessen Hintergrund er zum Träger des allein vom Betrachter zu findenden Inhaltes machte. Das Antlitz seiner berühmten „Mona Lisa“ (ca. 1503 -06) bildet so gesehen nur den zweitrangigen Vordergrund für ein viel bedeutenderes Vorhaben: die Erfindung einer neuen Hintergrundmalerei (Sfumato = Rauch; von sfumare = abtönen; dient der Luftperspektive und lässt Objekte blasser, blauer und verschwommener erscheinen: Tiefe!). Der Hintergrund sollte fortan weder ein reales noch ein ideales Sein, sondern nur ein Sein für den Betrachter haben! In freien Worten wiedergegeben entsteht für Leonardo „Wissenschaft“ in der Kunst allein im betrachtenden Geist des Menschen, welcher sich frei in Bezug zum Werk setzt. Dem so angefüllten Geiste entspränge dann die handwerkliche Ausführung des Werkes (das Haptische der Kunst), welches dann an Qualität die Wissenschaft der Betrachtung weit übertrifft durch seine neue formgewordene Wirklichkeit.

Felsengrotto Madonna, Leonardo da Vinci
„Felsengrotten Madonna“ (Ausschnitt)
Leonardo da Vinci ca. 1480, Louvre, Paris

Quelle: Leonardo, Pro Arte,
Schuler Verlagsgesellschaft München

 

Ein in dieser Hinsicht besonders eindrucksvolles Beispiel ist das Bild „Felsengrotten Madonna“ (ca. 1480, Louvre, Paris). Die dunkle Grotte gibt im Hintergrund den Blick ins Helle, ins Offene frei und erzeugt so das zentrale Thema des Bildes: nicht die Madonna, sondern die Durchdringung von Himmel und Erde, bzw. das Geheimnis der Verbindung von natürlichem Dasein und symbolischem Ausdruck ist gemeint: „gemalte Schönheit“, wie Leonardo es selbst beschreibt.

Hinter der die Menschen umtreibenden steten Neugierde nach dem, was über eine Sache hinaus führt oder sich hinter einer solchen befindet, steht nichts anderes als die Suche des Menschen nach sich  selbst. Wer bin ich? Hierauf fand er bis heute keine abschließende Antwort. Wir wissen wohl mittlerweile viel über uns, doch in Wirklichkeit wissen wir nichts! Trotz aller Wissenschaft und modernster Forschung ist bis heute nicht zu durchschauen, wie ein Stück Materie beschaffen sein muss, damit ein sich selbst bewusst seiendes Wesen diese Materie aus sich selbst heraus bewegen kann, wie es jeder Mensch mit seinem Leib tut. Was da geschieht, ist das eigentliche Geheimnis des Lebendigen. Es ist die zentrale Frage nach dem Hintergrund, an deren Klärung Augustinus und die Religionen selten Interesse hatten und haben und der Grund, warum sich Religion und Wissenschaft so unmenschlich gegensätzlich gegenüber treten trotz der Erkenntnisse von Planck, Heisenberg und den vielen anderen Physikern am Beginne des 20. Jahrhunderts.

Benannte ich mit Aristoteles einen einzelnen, welcher einen Weg zur freien geistigen Entwicklung der Menschen wies und am Beispiel Augustinus einen einzelnen, welcher bewirkte, dieses ganz menschliche Verlangen 1000 Jahre lang zu leugnen und wiederum mit Planck und Heisenberg gemeinsam auftretende Geistöffner, so möchte ich nun ein Beispiel eines epochalen Ereignisses aus der Kunst aufgreifen, wo zwei ganz unterschiedliche Disziplinen zueinander fanden, nämlich die Malerei und die Musik.

Deren Unterschied liegt zunächst in der Art ihrer Beschaffenheit. Um diesen zu erklären, muss ich auch die dritte Disziplin, die Wortkunst mit einbeziehen. Sie ist diejenige, welche in ihren Werken am engsten dem Stofflichen verhaftet bleibt: der Sprache und ihrer Schrift. Die Malerei hingegen kann ganz eng dem Stofflichen verbunden bleiben, zum Beispiel in Form des Naturstudiums, sich aber auch sehr weit von ihm entfernen, durch die Abwendung von der Natur hin zur Abstraktion, in der nur noch ein sogenanntes „Restnatürliches“ zurück bleibt. Die Musik hingegen hat gar nichts Stoffliches, welches sie an die materielle Welt binden könnte. Sie hat einen instrumentellen Charakter, tritt rein geistig auf (wie Geometrie und Mathematik) und muss ihr Stoffliches, ihre Natur aus sich selbst heraus bilden: Tonleiter, Dreiklang, Mehrstimmigkeit usw.  Durch den so unterschiedlichen stofflichen Charakter aller Drei, gelang ein großer Traum der unterschiedlichsten Künstler nie: das Gesamtkunstwerk, welches Wort, Bild und Ton miteinander verbindet.

Es geht um die Begegnung des russischen Malers Wassily Kandinsky (1866 - 1944) und des österreichischen Komponisten Arnold Schönberg (1874 - 1951)

Am 2. Januar 1911 besuchte Kandinsky u.a. zusammen mit Franz Marc, Gabriele Münther, Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky das Konzert eines ihm unbekannten Wiener Komponisten, Arnold Schönberg. Kandinsky war von dessen neuer „atonale Musik“ (= frei von bisher geltenden musikalischen Kompositionsgesetzten) so tief und begeistert bewegt, dass er danach das berühmt gewordene Bild „Impression III (Konzert)“ malte.

 Impression III, KandinskyImpression III (Konzert) 1911, Wassily Kandinsky

Zunächst soll geklärt werden, wie Kandinsky die „Impression“ von einer „Improvisation“ unterscheidet. Es war zu Beginn der abstrakten Malerei für die Künstler gar nicht leicht, den ungegenständlich gewordenen Bildern einen gegenstandsbezogenen Titel zu geben. Deshalb nannte Kandinsky einige Bilder „Impressionen“, in welchen er den direkten Eindruck der äußeren Natur wiederzugeben sucht, und außerdem den Titel „Improvisation“, in denen von der inneren Natur empfangene Eindrücke verarbeitet werden zu einer Komposition.

Zu dem Bild: Der in seiner Gegenständlichkeit als schwarze Fläche eindeutig erkennbare Konzertflügel scheint schwerelos zu entschweben. Um ihn herum liegt eine gelbe Fläche, welche wie ein Klangraum wirkt, der Musik dient und in die angedeutete Zuhörerschaft eindringt. Sie scheinen von der musikalischen Dynamik wie magisch angezogen zu sein.

 

Zugleich wandte er sich in einem ausführlichen in die Geschichte der Kunst eingegangen Brief spontan an Schönberg. Darin eröffnete er eine inhaltliche Debatte, in welcher er Thesen von der „Verwandtschaft der Dissonanzen! in der Kunst“ aufstellte. Kandinsky war ein ausgebildeter Cellospieler, welcher wusste, wovon er sprach. Die Dissonanz sei die „Konsonanz von Morgen“ und deren „antigeometrische, antilogische Harmonie und Konstruktion.“ Die Dissonanz solle einer „neuen Freiheit“ in der künstlerischen Gestaltung dienen. Ebenso begeistert zeigte sich Franz Marc und sah eine Übereinstimmung dieser neuen Musik mit Kandinskys Bildern. Zwischen Kandinsky und Schönberg begann ein ausführlicher Briefwechsel und eine enge Freundschaft. Schönberg führte seine eigenen malerischen Versuche intensiver fort und Kandinsky und Marc wollten unbedingt die Mitarbeit Schönbergs am „Almanach der Blaue Reiter“. „Schönbergs Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die Zukunftsmusik.“ („Über das Geistige in der Kunst“, Bern, 1952, S. 49)

Kandinsky faszinierte das „Hören“ von Farben und das „Sehen“ von Klängen. Hier liegt die Wurzel seiner Forderung, die neue Kunst entstehe aus dem „inneren Klang“ des in der Tiefe seiner Seele bewegten Menschen.

 

Hierzu gäbe es sehr viel Umfänglicheres auszuführen. Doch wollte ich nur ein weiteres Beispiel von aller größter Bedeutung dafür geben, wie sich epochal fruchtbringend die Auflösung von Gegensätzen, ja Dissonanzen, zu neuen Weltsichten vereinigen können, um von dort aus eine Antwort auf die zentrale Frage des Anfanges vorzubereiten: warum sich Kunst und Naturwissenschaft am gleichen Tisch sitzend bis heute nicht verbinden zu einer ebenfalls neuen Weltsicht? Die wäre ja möglich, wahrscheinlich sogar überlebensnotwendig für die Menschen.

Dem Versuch, darauf eine Antwort zu geben, könnte ich die Überschrift geben: „Die Krise der Wissenschaften und der Künste“, denn beiden trifft der gleiche Vorwurf, sich um Gemeinsamkeiten nicht zu bemühen. Warum nicht?

In diesem Zusammenhang spielt die Vorliebe eine Rolle, sich in den Wissenschaften gegenwärtig vor allem nur mit eindeutig entscheidbaren Fragen zu beschäftigen. Dabei nimmt man in Kauf, auch nur solche Fragen als wissenschaftliche Fragen anzuerkennen, über die eine eindeutig, methodisch kontrollierbare Verständigung möglich ist. Nur keine Dissonanzen! Doch die überwiegende Zahl von Problemen und die damit einher gehenden Fragen und notwendigen Lösungen, vor die sich die Menschen seit jeh und heute mehr den jeh gestellt sehen, sind gerade die nicht eindeutig entscheidbaren Fragen.

Rückblickend auf die Erfahrung der vergangenen Jahre drängt sich eine Nachfrage auf: ob es richtig ist, dass Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie in der modernen Gesellschaft allein das Bild der Wirklichkeit rein wissenschaftlich bestimmen und das alle nicht naturwissenschaftlichen, nicht technischen, nicht ökonomischen Fragen damit zu bloß theoretischen Fragen degradiert werden, die als solche nur sekundäre Bedeutung für die Realität der Gesellschaft und damit für die Menschen in dieser Gesellschaft haben? Sollen Fragen der Sittlichkeit, der Ethik, der Religion, der geschichtlichen Überlieferung, sollen Fragen nach dem menschlichem Selbstverständnis und dem sich richtigen Verhalten nur noch subjektiv und für den Begriff von Wirklichkeit irrelevant sein? Stören sie den wohlgeordneten Ablauf geradeaus in eine digitalisierte, rein technisch-ökonomisch orientierte Gesellschaft?

Indem die Naturforschung gewollt oder ungewollt auf diesem Wege mit der Wirtschaft und der Politik verzahnt wird, entwickelte sich die Wissenschaft zusehends wirtschaftlich, das heißt, sie schaut auf Erfolg, materielle Wertschöpfung erstrebend und auf Wachstum. Nicht mehr lenkbar, der Wirtschaft innewohnender Eigendynamik ausgeliefert, bilden die Naturwissenschaften Superstrukturen aus, dem die „Produzenten“ – gemeint sind hier die Wissenschaftler!! – ohnmächtig zusehen.

Die auftauchenden Fragen nach Sinn und Ziel der Wissenschaft sind plötzlich keine Fragestellungen dieser Wissenschaften mehr. Doch Fragen nach dem Menschen und der Festsetzung von Prioritäten für die Forschung dürfen nicht durch die Wissenschaften allein beantwortet werden. Sind die ersten philosophische, weltanschauliche oder allenfalls künstlerische Fragestellungen, so sind die letzteren politisch-ethische Fragen. Die Wissenschaften verließen ihren einstigen Standort, den eines ganz speziellen Bereiches der arbeitsteilig geordneten Arbeitswelt, um anscheinend heute für sämtliche Formen gesellschaftlicher Tätigkeiten die konstituierenden Formen grundlegend zur Verfügung zu stellen und zwar in der Art vor allem von rentablen Techniken bis hin zu den Humantechniken. Die Verwissenschaftlichung unseren gesamten Lebensverhältnisse ist der größte Irrtum und ein Dilemma.

Von dieser sich zunehmend ökonomischen Interessen öffnenden Schau aus materieller Wertschöpfung, Wachstum und Erfolgstreben, ließen sich die Künstler und vor allem der Kunstmarkt leider ebenfalls einfangen. Durch eine versteckte stete Zweckorientierung verloren sie ihre Kunstkraft an beinahe nur noch rein ökonomischen Strebens und Medienpräsenz.

Im Zuge dessen verlor und vergaß man die formgebende Kraft aus den Künsten. Deshalb wurden sie nicht mehr benötigt und vergessen! Das ist ein gewaltiger Schaden, denn Fortschritt entsteht im Menschen selbst und eben nicht aus wissenschaftlichen Techniken. Fast sämtliche aktuellen Probleme in der Gesellschaft sind fast immer reine Formprobleme!

Mein Schlussplädoyer:

Um dem Überleben der Menschen eine entscheidende Chance zu geben, müssen für sie die Formkräfte der Künste wieder verbindlich geweckt und gelehrt werden. Dazu müssten wir den Akademien der Künste ihren ursprünglichen Auftrag und ihre Lehre zurück geben und sie von den fatalen heute alles dominierenden Beliebigkeiten regelrecht befreien. Also Kunst gegen die Klimakatastrophe? Ja!

Die drohende Katastrophe wurde doch nicht von den Künsten, sondern von den Wissenschaften herbei geführt! Und mit dem gleichen Denken dieser Wissenschaften, welches das bedrohliche Szenario entfachten, soll auch die Rettung gelingen, nur müsse man jetzt alles eben „richtiger“ machen und vor allem verantwortlicher gegenüber den Menschen, von denen wir, wie vorher erklärt, allerdings nichts wissen? Das wird niemals gelingen. Das sehen wir doch längst.

Was wir benötigen, ist ein völlig anderes neues Denken, welches zu einem neuen Bewusstsein führt, denn wir müssen die Herzen der Menschen erreichen und sie damit in die Lage versetzten, ihre Lebenssituation und die Wissenschaften zu verstehen. Hierzu können vorrangig die Künste entscheidende Weichenstellungen geben, wenn es gelingt, sie wieder als eine naturgegebene Kraft eines jeden Menschen zu ergreifen.

So utopisch, ja unrealistisch wie all dies klingen mag, so möchte ich einen Naturforscher und Universalgelehrten als Zeugen benennen für meinen Vorschlag, keinen geringeren als Galileo Galilei. Wohl keine andere historische Persönlichkeit steht derart beispielhaft für den Schritt vom christlich geprägten Mittelalter hin zu einem befreitem Denken einer neuen Weltsicht und gleichzeitiges Opfer von kirchlicher Gewalt, sein neues Denken nicht öffentlich vertreten zu dürfen.

Galileo Galilei
Portrait von Galileo Galilei
von Justus Sustermans

(Antwerpen 1597 - Florenz 1681)

Uffizien, Florenz

 Zeichnungen vom Mond, Galileo
Zeichnungen vom Mond, November-Dezember 1609
Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Ms. Gal. 48, f. 28r

  

Am 30. November 1609 sah er durch sein selbstgebautes Teleskop Erstaunliches: der Mond schien stark uneben zu sein und Galileo konnte diese Schau in Aquarellbildern festhalten, denn er war ein ausgebildeter Aquarellmaler. Er zeichnet malend den Mond in sechs Phasen, wie ihn nie zuvor Menschen gesehen hatten, von Gebirgsketten und Tälern geprägt. Er fügte die im Teleskop nur stückweise zu erfassenden Ausschnitte des Mondes nachgefühlt zu einem Ganzen zusammen. Diese „Abbilder“ veröffentlichte er 1610 in seinem Buch mit dem Titel: „Sidereus Nuncius“ (Sternenbote). Die Sensation: es zeigte sich, dass der Mond keineswegs so perfekt geformt war, wie bis dato vermutet. Damit wurde er in ganz Europa berühmt.

So wird Galileo als eigener, ja eigenhändiger Produzent der Mondbilder zum Künstler in der Tradition der Renaissance-Malerei mit ihren Grundsätzten des „Disegno“ und des „Concetto“. Disegno, das heißt, etwas in Umrissen darstellen zu können und damit die Grundlage jedes Kunstwerkes als eine künstlerische Idee zu zeigen. Concetto, das heißt der Wettstreit zwischen Idee und Ausführung.  Um diese Fertigkeiten zu erlernen, gründete der Herzog Cosimo I de Medici, 1563 die „Accademia del Disegno“, Florenz. Es war der erste Schritt zur Errichtung von Kunstakademien in Europa.

 

Zum Schluss noch einen weiteren Zeugen, welcher schon 300 Jahre vor Galileo neue Weltsichten eröffnete durch die Vergegenwärtigung der Natur als Landschaftsraum: Francesco Petrarca (1304 – 1374) aus Arezzo, einer der Begründer des Renaissance-Humanismus mit folgenden Worten:

„Wenig Kunst,
der Bücher viel,
das ist der Narren Frevelspiel.“

Werner Heisenberg wies immer wieder darauf hin, dass sich die moderne Naturforschung auf die Grundlagen Goethes beziehen müsse.

Und Goethe (1749 – 1832) drückte den Sachverhalt folgendermaßen aus: „Wenn wir von ihr eine Art von Ganzheit erwarten, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken.“ („Materialien zur Geschichte der Farbenlehre“, im Abschnitt: „Betrachtungen über Farbenlehre und Farbbehandlung der Alten“; auch: Naturwissenschaftliche Schriften, 2. Band, Seite 73.)

Übrigens: das vollkommene Maß für Ganzheit bildet der Mensch selbst.

Zum Schluss möchte ich anbieten, dieses Essay direkt weiter fortzusetzen, um die Frage zu beantworten, wie die Kunstakademien wieder reformiert werden müssten und was sie zur Klimadebatte beitragen könnten? Es wäre schön von meinen Lesern hierzu eine Rückmeldung zu erhalten, ob sie daran interessiert wären?

 

© Martin Rabe & Sibylle Laubscher