Gedanken zur Zeit
Ich möchte das zu Ende gehende Jahr mit einigen hGedanken zur Zeitfentlich sinnfälligen Gedanken zur Zeit begleiten und Ihnen meine Grüsse zum neuen Jahr übermitteln.
Die Erklärungen in den letzten drei Essays über KI und das Absurde werden im Neuen Jahr ausführlich weitergeführt.
Vielleicht stimmt die Verkaufsstatistik des Buchhandels, dass Kalender mit Bildern aus dem Gebiet der bildenden Kunst, vor allem solche aus der Malerei, die höchsten Verkaufszahlen haben. Diesem Umstand haftet insofern etwas Sonderbares an, da Kunstwerke u. a. deshalb Werke der Kunst sind, weil sie entzeitlichte Aussagen enthalten, also Zeitlosigkeit verkörpern, wohingegen ein Kalender uns gerade das Zeitliche und Vergängliche vor Augen führt, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat eines ganzen Jahres.
Der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775 – 1854) formuliert in seinem grundlegenden Werk: „Die Rede über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur“:
„Die Kunst, indem sie das Wesen in jenem Augenblick darstellt, hebt es aus der Zeit heraus; sie lässt es in seinem reinen Sein, in der Ewigkeit seines Lebens erscheinen.“
Es gehört also zum Wesen der Kunst, zu Entzeitlichen. Das ist ihre Historizität: zu jeder Zeit, an jedem beliebigen Ort kann sie von jedem Betrachter immer wieder ganz neu erlebt und verstanden werden. Fälschlicherweise wird das oftmals als „Ewigkeitsanspruch“ der Kunst kritisiert. Kunst erhebt überhaupt aus sich selbst heraus niemals einen Anspruch. Erst im Dialog mit einem Kunst wahrnehmen wollenden Subjekt erhält sie Bedeutung.
Suchen wir Menschen vielleicht der Zeit zu entfliehen und damit uns dem zu entziehen, was wir selbst einmal in die uns gegebene Schöpfung einbrachten, nämlich Zeitmessung?
Ich erinnere hier an die Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1948 des Malers Max Beckmann(1884 – 1950) die ich in einem früheren Essay bereits zitierte:
„Am Anfang war der Raum, diese unheimliche und nicht auszudenkende Erfindung der Allgewalt. Zeit ist eine Erfindung des Menschen, Raum ist der Palast der Götter.“
Das Gefühl für die Zeit entstand unter den Menschen erst wirklich mit der Öffnung ihrer Sinne für den Erdenraum. Vorher lebte man in unserem heutigen Verständnis „zeitlos“, gleichsam perspektivlos. Da war das Bedeutsame groß und dieses war bewegend, und nicht der Lauf der Zeit.
Auf wahrhaft kunstvolle Weise verleiht uns die Musik ein Gefühl für die Zeit. Musik ist in der Zeit, sie ist eine reine Zeitkunst, an ihr haftet nichts Irdisches: der Ton erklingt und vergeht. Was bleibt, ist das Harmonieerlebniss in uns: das Zeitlose!
Der vorsokratische Philosoph Pythagoras (c. 570 – c. 495 v. Christus) entwickelte eine Harmonielehre aus der Klangmessung von Tönen. Er wollte damit keine Musiklehre begründen, sondern eine harmonische Messung des Zeitenlaufes.
Im Jahreslauf erleben wir die Rhythmen, etwas, dass unseren Blutkreislauf mit der Schöpfung verbindet. So wie wir aus dem Rhythmus der Natur immer wieder das Neu-Werden, die Verwandlung lebenskräftespendend aufnehmen, erinnern wir uns beim Lauf der Zeit des Vergänglichen und des Endlichen. Vielleicht deshalb erleben die Menschen die Zeit, ihre eigene Erfindung, als eines der größten Schrecklichkeiten? Die Zeit ängstigt sie: sie ist flüchtig und unheimlich, gestaltlos und unergründlich, ein Schnittpunkt zwischen zwei Ungewissheiten: eine Vergangenheit, die nicht mehr ist, kaum verstanden, aber dennoch sich fortwährend in unser Heute einbringt und eine Zukunft, die noch nicht ist, jedoch mächtig bereits auf unser Heute lastet. Umgeben von den Tatsachen der Vergangenheit, nennen wir sie Tatsachen der Erinnerung und den Plänen der Zukunft, nennen wir sie bestenfalls Vorstellungen und Utopien, welche beide die Menschen wie feste Grössen erlebt, erscheint die Zeit selbst als etwas, dass keine Bindung hat, rein als Bewegung, eine sich fortwährend in Bewegung haltende Mitte zwischen Vergangenheit und Zukunft und nur im Augenblick geistesgegenwärtig erlebt werden kann. Gegenüber dieser so gekennzeichneten Gegenwart des Geistes sind die Menschen ganz dem Materiellen hingegeben, scheinbar blind.
Statt dieses Geistgeschenk anzunehmen, leben die Menschen in dem Gefühl, diese vornehme Mitgift, welche der Geist der Schöpfung ihnen ständig anbietet, gehöre ihnen nicht. Sie bekämen sie nicht zu fassen. Wie Jäger sind die Menschen hinter der Zeit her, um sie zu fassen, zu besitzen und natürlich auch zu beherrschen. Welch ein Irrtum! Sie wähnen, diese Wirklichkeit zwischen Vergangenheit und Zukunft beherrschen zu können. Und so beherrscht die Erscheinung die Blinden. Sie sind von ihr besessen. Sie jagen der Zeit nach wie nach einem Phantom, welches „Morgen“ heisst, jedoch niemals erreicht werden kann.
Und dann fällt die ernüchternde Erkenntnis:
„Ich kümmerte mich immer um das Dringlichste, doch zum Wesentlichen, nämlich zu mir, zu mir als Wesen, kam ich nie. Denn eigentlich bin ich ein ganz anderer, doch ich kam nie dazu.“
Abschließen möchte ich meine Gedanken über die Zeit mit einem meiner lieblingsgedichte. Es stammt von Andreas Gryphius (1616 – 1664), welcher in den Schreckenszeiten des Dreißigjährigen Krieges niederschrieb:
Mein sind die Jahre nicht,
Die mir die Zeit genommen.
Mein sind die Jahre nicht,
Die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein
Und nehm ich den in Acht,
So ist der mein,
Der Jahr und Ewigkeit gemacht.
Erinnern wir uns dabei an das Zitat von Schelling zu Anfang und wir sind im Reich der Kunst.
© Sibylle Laubscher & Martin Rabe
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