Über das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft | Teil I
Bevor ich meine Gedanken zu dem vorangestellten Thema entwickle, möchte ich die Zielrichtung meines Vorhabens präzisieren, in dem ich kurz erkläre, worum es mir nicht geht.
Mir geht es nicht um das Verhältnis von Kunst und Natur, sondern darum, die Kunst in Beziehung zu setzten zur Wissenschaft über die Natur. In einem früheren Newsletter ging es mir ganz generell um das Verhältnis von „Kunst zu den Wissenschaften“ oder etwa um das „Verhältnis von Kunst und Gesellschaft“, „Kunst und Religion“ usw.
Zum Verhältnis von Natur und Kunst weise ich gern wieder auf die kantianische ästhetische Kategorie der „Negativität der Kunst“ hin, worüber ich bereits schrieb. Zur Erinnerung: Mit Negativität ist nicht etwas Positives oder Negatives gemeint, sondern Negativität im Sinne von Negation. Das soll bedeuten, jedes Kunstwerk negiert die Wirklichkeit. Es erfasst nicht das Faktische. Es negiert es und zeigt jeweils das darüber hinaus Mögliche. Würde es dem Faktischen verhaftet bleiben, wäre es nur nachgeschaffene Natur und nicht als etwas vom Künstler selbstschöpferisch neu ins Werk Gesetztes. Wir müssen verstehen, dass Wirklichkeit im Kunstwerk dann anwesend ist, insofern unsere Lebenswirklichkeit nicht real dargestellt ist. Die Kunstwirklichkeit ist immer schon durch eine Negation hindurch gegangen, ist künstlich und Fiktion! Hier berühre ich einen entscheidenden Punkt, welcher später für unser Thema wichtig wird: Dass ein Kunstwerk keine Proportionale, also keine logische Aussagewahrheit mitteilt. Doch genau darauf setzt die Wissenschaft. Wissenschaftliche Aussagen beziehen sich immer auf Fakten, welche in der Logik auf eine logische und propositional objektivierbare Aussage bezogen sind. Wenn die Frage entsteht, ob dasjenige, was ich sage, wahr ist, dann kann nur danach gefragt werden, ob das logisch wahr ist oder nicht. Auf Kunstaussagen bezogen kann niemand dasjenige, was ich als Künstler denke, wissen. Es kann immer nur rückbezüglich auf die Aussage selbst bezogen bleiben. Kunstwerke haben also keinen propositionalen Charakter, können also weder wahre noch falsche Aussagen über etwas haben, da sie sich stets auf sich selbst beziehen und deshalb bilden sie eine Negativität gegen Ansprüche außerhalb ihrer selbst. Man könnte noch sagen, besonders auf die Moderne bezogen, Negativität in der Kunst bedeutet etwa die Abwesenheit von der Einheit der Natur. Die Einheit der Natur ist beispielsweise in der Abstraktion nicht mehr unmittelbar sichtbar; ebenso die Abwesenheit von Transzendenz oder die Abwesenheit von Sinn usw. All dies ist ebenfalls mit Negativität gemeint. Man könnte gerade in einem doppelten Sinn Negativität auch als die Kategorie der modernen Kunst schlechthin bezeichnen in ihrem am weitesten gedehnten und ausinterpretiertem allgemeinen Verständnis, was Kunst überhaupt zur Erscheinung bringt.
Darauf Bezug nehmend ziehe ich an dieser Stelle schon eine Frage vor, die ich erst später beantworten werde: Ob es vielleicht in der Naturwissenschaft, speziell in der Physik, ebenso einen Zeitpunkt gab, wo ihr die Natur, ihr eigentlicher Gegenstand, abhanden kam und wenn, was an deren Stelle trat?
Doch zunächst möchte ich mit meiner Präzisierung fortfahren und folgende Frage stellen: Was ist die Natur ihrer Erscheinung nach? Woher wissen wir über sie etwas Konkretes? Es wird Sie womöglich überraschen, wenn ich hier behaupte, dass dasjenige, was wir als Natur bezeichnen, ein vom Menschen gemachtes Phänomen ist. Die Natur trat nie mit der Behauptung auf: „Seht her, ich bins!“ Sondern wie und was sie ist, entspringt immer den Erkenntnissen des neugierig forschenden Menschen. Ob er dann auf die wirkliche Natur trifft, werden wir nie wissen können. Insofern bleibt in der Erforschung der Natur immer ein Geheimnis, welches lautet: „Ist sie es wirklich?“ Sie ist für uns das „Gegebene“, welches wir im Kontext mit Religiosität auch die „Schöpfung“ nennen. Deren Gesetzmäßigkeiten bestimmt allerdings auch der Mensch. Er macht die Naturgesetzte, indem er sie findet. So ist der Satz des englischen Philosophen und Naturwissenschaftlers, Francis Bacon (1561 – 1626) zu verstehen, „Wissen (selbst) ist Macht“, und zwar Macht über die Natur, nicht über Menschen. Sich durch Wissen einer gewaltigen Natur zu stellen und „den Menschen in einen höheren Stand seines Daseins zu bringen.“
In einer verwandten Situation befindet sich der Künstler. Kunst wird von ihm gemacht. Daher ist sie künstlich und nie natürlich, obwohl die Natur durch ihre wundervollen Gestaltbildungen in Form, Farbe und Bewegungen, jahrhundertelang seine große Inspiratorin und Erzieherin war und zur Nachahmung verlockte, der auch zahlreiche Scheinkünstler erlagen. Doch wie vorher erklärt, sucht ein Künstler das, was in seinem Inneren an bildhaften Notwendigkeiten über die Natur hinaus geht und zu Kunst führt. Wann dieser Punkt von ihm erreicht ist und ein Kunstwerk entstand, wird er genau so wenig wissen, ob es tatsächlich ein Kunstwerk ist, wie der Naturforscher nie weiß, ob er auf die wahre Natur trifft. Was ein Kunstwerk ist, seiner Beschaffenheit nach, sua species, werden wir nie wissen können. Es ist offen! Wir können uns ihm nur angemessen oder leider auch unangemessen nähern. Unangemessen nähern wir uns vor allem dann, wenn der Künstler als Person seine geistige Personalität nicht lebt und dadurch Elementarerlebnisse ausbleiben. Wo die geistige Sphäre der Person nicht gelebt wird, ist Kunstschaffen unmöglich.
Zu der Frage nach Elementarerlebnissen zitiere ich Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835), der ältere Bruder Alexanders (1769 – 1859): „Die ganze Masse des Stoffes, welche die Welt und sein Inneres darbietet, mit allen Werkzeugen und mit allen Kräften seiner Selbsttätigkeit umzugestalten und sich anzueignen und dadurch sein Ich mit der Natur in die allgemeinste, regste und übereinstimmendste Wechselwirkung zu bringen.“ Er sagt, dass der tätige Mensch durch seine geistigen Kräfte auf die Welt einwirkt und erweitert so auch auf diese Weise das „sinnliche Gebiet der Natur“. (Ästhetische Grundbegriffe, Band 1, S. 716, Stuttgart)
An dieser Stelle treffen wir im Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft auf Verwandtes, in dem bei beiden, beim Künstler sowie beim Wissenschaftler der forschende Geist als Triebfeder des jeweiligen Tuns vorherrscht.
Mir ist übrigens die Bezeichnung „Forscher“ lieber als die moderner klingende Variante „Wissenschaftler“, weil man im Forscher noch dessen Tatendrang verspürt und im Vergleich zum Wissenschaftler bei ihm eher das Gefühl von vorhandenem Wissen wie etwas Gesichertes mitspricht. Wir könnten uns beispielsweise wohl kaum damit anfreunden, Alexander von Humboldt nicht als Naturforscher zu bezeichnen, sondern als Wissenschaftler. Bis heute ist er der größte Naturforscher, den es je gab. Oder beispielsweise Goethe (1749 – 1832), welcher immer von seinen naturwissenschaftlichen Forschungsabsichten spricht. Ich erwähne sie beide, weil ich mich später wieder auf sie beziehen werde.
So wie wir bereits Verwandtes zwischen Künstler und Naturwissenschaftler fanden, so unterschiedlich wiederum ist deren Vorgehensweise gegenüber der Natur.
Beginnen wir mit den forschenden Naturwissenschaftlern. Schon Leonardo da Vinci (1452 - 1519) verwies immer wieder darauf, das Aussagen über die Natur nur durch die Erfassung in einem „Experiment“ wahre Bedeutung erhalten. Vereinfacht erklärt, wird darin eine bestimmte Form der Frage von Interesse an der Natur im Experiment nachgebaut. Die so nachgestellte Natur unterliegt nun der Beobachtung des Forschers, welcher seine Beobachtungsresultate sammelt, beurteilt und zum Ergebnis „richtig“ oder „falsch“ gelangt. Das ist schlussfolgerndes Denken, welches dem Verstand entspringt. Es ist diskursiv, das heißt, logisch und verknüpft einzelne Elemente zu Zusammenhängen. Daraus entstehen für den Forscher Begriffe, sein Urteil und sein Schluss (= Beweis).
Alles das spielt sich im Kunstprozess nie ab, sondern gerade das Gegenteil: Der ebenso forschende Künstler beobachtet nicht, sondern beschreitet den Weg der Wahrnehmung und ist damit der Vernunft verbunden. Diese ist immer situationsabhängig, allen voran die sinnliche Wahrnehmung, welche Immanuel Kant (1724 - 1804) der theoretischen Vernunft zuordnet. Theoretisch, Theorie hier im ursprünglichen Sinne des antiken Griechenlands verstanden als eine Form der Anschauung, einer anschauenden Urteilskraft, von der Goethe immer sprach.
Die Außenwelt, die Natur erfährt der forschende Künstler im Erleben. Dort treffen die sinnlich wahrnehmbare Welt auf die geistige Realität der Person. In diesem Prozess werden für den Künstler die Qualitäten der Wirklichkeit erfahrbar: Das Nichtmessbare! Der Künstler als Person könnte dem Forschen des Wissenschaftlers folgendes Beispiel entgegenhalten: Wenn man die ganzen Naturphänomene auf bloße Zeigerauschläge reduziert (messen!), wie in der Wissenschaft praktiziert, bleibt ein Gesamtergebnis, nämlich das der Leere. Die Leere offenbart, dass das menschliche Subjekt im dem gefundenen Resultat selbst nicht vorkommt: Es fehlt!
„Der Wissenschaftler will die Erkenntnis des absolut Realen. Der Künstler (als Person) will die Neuschöpfung einer konkreten Wirklichkeit, in welche die Ideenzusammenhänge besser, vollkommener, reiner (absichtslos) gegeben sind als in der Welt der natürlichen Anschauung.“ Max Scheler (1874 – 1928) Schriften aus dem Nachlass, Leipzig 1933, Band 1, S. 430.
Der Wissenschaftler will per Experiment in das Innere der Materie vordringen durch Skelettierung, Sezieren, usw. Er möchte Herrschaft über das Gegebene. Er möchte die Wirklichkeit beherrschen. Der Künstler hingegen möchte das Wirkliche deuten, um zu demjenigen vorzudringen, was die Natur uns in ihren Gestaltbildungen nicht zeigt, denn sie offenbart nie die ganze Idee, welche Gestalt werden wollte. Dahin vordringen kann er jedoch nur durch Verinnerlichung.
Der Maler Paul Cezanne (1839 – 1906) drückt dieses künstlerische Bemühen so aus: „Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sie ist in der Tiefe. Die Farben sind Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche. Sie steigen aus den Wurzeln der Welt auf. Sie sind ihr Leben, das Leben der Ideen.“ (Gespräche über die Kunst; die Gasquet-Briefe)
In Ergriffenheit vor dem Naturschönen formulierte der Philosoph Nicolai Hartmann (1882 - 1950) in seiner Ästhetik, dass sich der wahrnehmende Mensch „des Gefühls nicht erwehren kann, mit einem Schlag von Angesicht zu Angesicht vor dem Wunder der Schöpfung zu stehen.“
Der Naturwissenschaftler hingegen fällt dem Trugschluss anheim, durch „Sezieren“, „Atomisieren“ in das Innere der Materie zu gelangen. Doch dazu muss er stets das Innere ins Äußere umkehren. Also wird mit dem Anspruch, das Innerste zu erforschen, doch stets nur wieder etwas Äußeres und Totes, sich nicht Veränderndes der Materie angeschaut.
Einer der fundiertesten Kritiker dieser naturwissenschaftlichen Vorgehensweise war Goethe. Er billigte der Kunst ihren ganzheitlichen Anspruch zu, eine „singuläre Totalität“ (Immanuel Kant) zu sein, die Präsenz des Vollkommen schlechthin. Diesen Anspruch versagte er der Naturwissenschaft, da sie ihn in ihrer Vorgehensweise methodisch niemals erfüllen könne. Sie beschäftige sich nur mit Teilhaftem und daraus folgendem Detailwissen aus einem rein kausal-mechanistischem Verfahren.
„Wenn wir von der Wissenschaft irgendeine Art von Ganzheit erwarten, so müssen wir sie notwendig als Kunst denken.“ (Goethe, 1749 – 1832, Maxime) Er sagt:
„Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, nicht im Toten;
Sie ist im Werdenden und sich Verwandelndem,
aber nicht im Gewordenen und Erstarrtem.
Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden und Lebendigem zu tun;
Der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, dass es nutze.“
Der in die Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaft eingegangen Streit zwischen dem englischen Physiker, Astronom und Mathematiker Isaac Newton (1643 – 1727) und Goethe über das methodische Vorgehen der naturwissenschaftliche Forschung wurde, hier frei formuliert, von Newton gewonnen und zwar zu Gunsten der sogenannte kausal-mechanistische Methode des Verstandesdenkens. Damit begann der Siegeszug der Naturwissenschaft, allerdings mit einem bedeutenden Verlust: Sie verlor den Menschen, das subjektive Element innerhalb des Geschehens. Von daher rührt das verzweifelte Bemühen der Naturwissenschaft mit ihrer zusätzlichen Tendenz zur Ökonomie, eine Ethik zu entwickeln. Das allerdings gelang dem Künstler:
„Die Ethik, welche die Realisierung des Guten verknüpft mit der Hervorbringung der anmutenden Form, nennt man ästhetische Moral.“ (Martin Rabe geb. 1942)
Bedauerlicherweise entstand aus der methodisch unterschiedlichen Vorgehensweise von Beobachten und Wahrnehmen die Spaltung in zwei Kulturen von Natur- und Geisteswissenschaften, bzw. in die szientistische und selbstschöpferische Intelligenz, auf die eindrücklich der britische Romancier und Physiker Charles Percy Snow (1905 – 1980, Die Zwei Kulturen, 1959) hingewiesen hat. Darauf weiter einzugehen, würde den hier gesetzten Rahmen bei weitem überschreiten. Doch erwähnen wollte ich es, bzw. sein Buch empfehlen.
Der Erfolg der Naturwissenschaften wurde also in der Tat mit einer großen Verarmung erkauft. Die Natur erscheint nicht mehr als die lebensvolle, göttliche Schöpfung ungezählter Individuen, sondern als die lawinenartig vervielfachte Produktion des Wirkens weniger Naturgesetzte. Der geistige Gehalt einer solchen Schöpfung kann eigentlich nicht umfangreicher und qualitativ höher wertig sein als der geistige Inhalt dieser Gesetzte. Der Mensch selbst kann innerhalb einer so verstandenen Welt dann auch nichts anderes sein als ein komplizierter Mechanismus. In diesem Weltbild gibt es real wie bewusstseinsmäßig keinen Raum für Freiheit und geistige Schöpferkraft. Naturwissenschaft wieder erlebbar zu machen, sowie es die Kunst immer war und ist, sie zu wandeln, dass sich die Menschen in ihr erkennen und selbst finden können, dies muss das Ziel der Zukunft der Wissenschaft sein. Ein Weiterschreiten ist hier nur mit Hilfe von mathematischen Operationen möglich. An der Grenze eines rein materiellen Weltbildes treffen wir auf etwas, dass wir nur noch mit unseren Gedanken erreichen, bzw. mit keinem Experiment mehr. Es wird dann wichtig, diese Grenze des Erlebens und Erkennens auszuhalten. Wir können des Geistigen bewusst werden, dem wir in unserem eigenen Denken begegnen, wenn wir seine Realität anerkennen und nicht wieder in scheinbare gegenständliche Vorstellungen zurückfallen. Den mutigen ersten Schritt dazu tat der Physiknobelpreisträger Max Planck (1858 – 1947) um die Jahrhundertwende durch die Entdeckung der quantenhaften Naturphänomene, welche um 1905 von Albert Einstein vertieft und bis zum Jahre 1925 von führenden Physikern, u.a. Niels Bohr, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger, Max Born, Paul Dirac und Wolfgang Pauli weiter entwickelt wurde. Die kausal-mechanistisch betriebene Physik scheiterte total. Die neue Situation beschreibt Werner Heisenberg (1901 - 1976) in seiner Abhandlung „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik“, in welcher er den Begriff von der „Unschärferelation“ entwickelte. Die neuen umwälzenden Erkenntnisse erforderten zum Verständnis eine umwälzende Bewusstseinsarbeit zur Korrektur überkommener Denkschemata. Das kann nur gelingen, wenn die Wissenschaft sich die andere Seite der Wirklichkeit, sagen wir der Sicht der Künstler auch zu wendet. So zitiere ich Werner Heisenberg, nachdem er die Wirklichkeit der heutigen Naturwissenschaft charakterisiert hat:
„Dieser objektiven Wirklichkeit, die nach festen Gesetzen abläuft und die uns dort bindet, wo sie sinnloser Zufall scheint, steht nun die andere Wirklichkeit gegenüber, die wichtig ist, die etwas für uns bedeutet. In dieser anderen Wirklichkeit wird das, was geschieht, nicht gezählt, sondern gewogen, und das Geschehene wird nicht erklärt, sondern gedeutet. Wenn hier von sinnvollen Zusammenhängen gesprochen wird, so handelt es sich um eine Zusammengehörigkeit im Inneren der menschlichen Seele.“ Hierbei bezieht sich Heisenberg ausdrücklich auf Goethe und seine Art, die Natur anzuschauen. Er sagt: „Wir heutigen Physiker sind in unserem Fach Schüler Newtons und nicht Goethes. Aber wir wissen, dass diese Wissenschaft nicht absolute Wahrheit, sondern ein bestimmtes methodisches Verfahren ist. Wir sind genötigt, über Gefahr und Grenzen dieses Verfahrens nachzudenken. So haben wir Anlass, gerade nach dem in Goethes Wissenschaft zu fragen, was anders ist als in der herrschenden Naturwissenschaft.“ (Rede vor der Goethe-Gesellschaft, 1967)
In den Worten des bedeutenden dänischen Physikers Niels Bohr (1885 – 1962), mit denen er sich auf die Physik der Atome mit Namen „Quantentheorie“ bezieht:
„Die Quantentheorie ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, dass man nur in Gleichnissen und Bildern von ihm reden kann.“ Nicht logisch!
Auch die Naturwissenschaftler mussten fortan ihre Ergebnis in einer Form präsentieren, die man schon längst aus der Kunst kannte: in einer offenen Form!
In seinem grundlegenden Werk: „Der Teil und das Ganze“, München, 1972, S. 325 f.f. schreibt Werner Heisenberg weiter:
„Am Anfang war die Symmetrie, das ist sicher richtiger als die demokritische These (Vorsokratiker Demokrit, ca. 460 v. Christus): „Am Anfang war das Teilchen!“ Die Elementarteilchen verkörpern die Symmetrien, sie sind ihre einfachste Darstellung, aber sie sind erst eine Folge der Symmetrien.
Die Elementarteilchen können mit den regulären Körpern in Platons „Timaios“ verglichen werden. Sie sind die Urbilder, die Ideen der Materie… diese Urbilder bestimmen das weitere Geschehen. Sie sind die Repräsentanten der zentralen Ordnung…“
Diese Worte erinnern erstaunlicherweise an die Worte des Astronomen Johannes Keppler (1571 – 1630):
„Die Geometrie ist vor Erschaffung der Dinge, gleich ewig wie der Geist Gottes. Sie ist Gott selbst und hat ihm die Urbilder geliefert für die Erschaffung der Welt. In den Menschen aber, Gottes Ebenbild, ist die Geometrie übergegangen, nicht erst durch die Augen wird sie aufgenommen … Die mathematischen Gegebenheiten und die Vernunftschlüsse entstehen in der Seele selbst. Sie sind Beispiele oder Urmuster … Sie sind mit Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Nach ihnen war die Körperwelt zu schaffen … Erkennen heißt, das sinnlich Wahrnehmbare mit den inneren Urbildern vergleichen und es mit ihnen übereinstimmend befinden.“ (aus Ernst Mössel, Urformen des Seins, Stuttgart, 1938)
Aber auch auf einen Satz von Wassily Kandinsky aus seinem Buch „Essays über Kunst und Künstler“, Bern, 1955, möchte ich hinweisen:
„Im Spannungsfeld der Komposition wird mit den Mitteln der sichtbaren Welt das Zusammenspiel unsichtbarer Wesenheiten anschaubar gemacht. Die geistigen Urbilder rufen uns im Kunstbild ihr leidenschaftliches „Ich bin da“ zu und sind wieder fassbar geworden.“
Reden die Naturwissenschaftler nun von Urbildern, den Archetypen, sogenannte kollektive Deutungsmuster von Bildern, Figuren, aber auch Situationen, die im Unterbewusstsein von Menschen verankert sind und unsere Wahrnehmung prägen können, dann sollten wir uns dem Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875 – 1961) zuwenden, welcher diese Urbilder mit Emotionen, Eigenschaften und auch Zielen des Menschen verband. Zu Ihm ging der Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli (1900 – 1958) welcher angab, seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vorher geträumt zu haben, um sie danach zu verifizieren. Er wollte diese Erlebnisse mit Hilfe Jungs verstehen.
Was wir feststellen können, ist der Umstand, dass der moderne Naturwissenschaftler tatsächlich eine unmittelbare Nähe zu Kunst und Künstler gefunden hat. Nun sitzen sie beide am gleichen Arbeitstisch, wobei der Künstler Künstler bleiben darf und der Naturwissenschaftler Wissenschaftler. Seither können wir sagen, dass Wissenschaft durch Kunst menschlich wurde und Kunst ohne Wissenschaft lächerlich wirkt.
Und derjenige, welcher vor ihnen schon lange dort saß, den möchte ich zum Schirmherrn meiner hier vorgelegten Ausführungen machen. Er ist nach wie vor der größte Naturforscher aller Zeiten, nämlich Alexander von Humboldt. Er war von der Absicht getragen, hinter der Vielfalt der Erscheinungen die verborgene Gesetzte ihre Übereinstimmung und Harmonie aufzuspüren: „In der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen… den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt.“ Auf diesem Wege reicht unser Bestreben über die Grenze der Sinnenwelt hinaus und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung dann gleichsam durch Ideen zu beherrschen. Zu diesem Ergebnis kam Werner Heisenberg ebenfalls.
Humboldt war eben auch ein malender Künstler und deshalb wohl gab er dem Hauptartikel des ersten Bandes seines bedeutendsten Werkes „Der Kosmos“ den Titel „Ein Naturgemälde“.
Alexander von Humbodlt, 1806. Gemälde von Goerg Weitsch (1758 – 1828). Staatliche Museen, Berlin, Nationalgalerie. Quelle: Kulturzeit der Wissenschaften, Ästhetische Ansichten, Hörsaal Holzen.
Zum Schluss möchte ich für unsere Zeit noch einmal wiedergeben, was Werner Heisenberg im Jahre 1939 formulierte: Es handelt sich um eine tiefe Einsicht in die Natur der Dinge. Sie führte ihn zu der Tatsache, dass die Bahn eines Elektrons in einem Atom erst durch den Forschenden selbst entsteht. Also: die Natur erhält ihre Form nicht aus sich selbst heraus, sondern durch den Menschen, der sie zu entdecken sucht. Ohne den forschenden, messenden Menschen, und den Blick des Experimentators (Leonardo!) bleiben Objekte atomare Größenordnung unbestimmt. Die Wirklichkeit dieser Objekte stellt sich als eine Ansammlung von Möglichkeiten dar (Deutungen!), die sie ihrer Natur nach haben, jedoch welche davon gezeigt wird, hängt einzig und allein von der Fragestellung des Beobachters ab. Nicht die Natur selbst, sondern der Beobachter allein, bestimmt, wie die Natur ist. Ohne ihn gäbe es diese Natur nicht.
Die Brücke zur Kunst ist offensichtlich, denn wie zu Anfang geschrieben, hat ein Kunstwerk unendlich viele Bedeutungen, die von unendlich vielen Rezipienten gefunden werden. Insofern ist ein Kunstwerk stets die Niederschrift einer künstlerischen Idee, welche der Betrachter oder der Interpret (Musik) findet und für sich entwickelt. Deshalb können wir nie endgültig sagen, was ein Kunstwerk ist, sondern wir können es nur aus der Begegnung immer wieder neu erleben und verstehen. Es ist nichts Festes, sondern ein stets Bewegtes, wie der Mensch selbst.
Martin Rabe (geb. 1942), „Im Gleichgewicht – Naturwissenschaft und Kunst“,
1965, Öl auf Leinwand, 83 x 92 cm, Privatbesitz.
© Sibylle Laubcher & Martin Rabe
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