• Statt einer Vernissagerede – ein Dialog über Kunst

Statt einer Vernissagerede – ein Dialog über Kunst

Es handelt sich um die leider nur unvollständig vorliegende Aufzeichnung eines Gespräches zwischen dem New Yorker Ausstellungsmacher (?) und S. Der Zeitpunkt war nicht mehr zu eruieren. 

?: Hello, Ms S.! Alles okay?

S.: Was?

?: Ich meine Ihre Exposition. Sie sind Maler. Wie fühlen Sie sich?

S.: Ich bin Künstler. Malen ist mein Beruf.

?: Okay! Sie spielen mit dieser feinsinnigen Unterscheidung auf den überzeugenden Satz eines Ihrer weltberühmten deutschen Kollegen an: »Jeder Mensch ist ein Künstler?«

S.: Nein, gar nicht. Einerseits stammt dieser Satz ursprünglich aus dem Munde des

Deutschen evangelischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834), Philosophen und Pädagogen und heißt bei ihm: »Alle Menschen sind Künstler.«  

Er steht vor allem in der Nachfolge von Immanuel Kant und F. W. Joseph Schelling. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil er damit in der Tradition der Philosophie der Romantik steht, in der man von der Schöpfung der Welt ausging als einen „poetischen Akt“. Darunter verstand man eine selbstschöpferische Kraft im Menschen: Eine Kunstkraft, in der Mitte zwischen seiner Glaubenskraft (Religion) und seiner Wissenskraft (Wissenschaft). So geordnet sagt Schleiermacher wörtlich: „Alles, was der Mensch als eine Erweiterung aneignend bildet, muss er kunstmäßig bilden.“ Das heißt nichts anderes, als dass die Werke des Menschen aus seiner Kunstkraft heraus ihre vollendet gültige Form erhalten. Das gilt für alle Formbildungen des Menschen. Seine selbstgemachten Formen stellt er den gewachsenen Formen der Natur gegenüber als seine eigene Welt: Die vom Menschen selbst geschaffene Welt. Nun ist das aber noch lange nicht die Welt der Kunstwerke. Es handelt sich um Lebensformen, die ihm ermöglichen, mit Mensch und Natur in Freiheit und Frieden zu leben. Daraus bildet sich dasjenige, was wir allgemein die objektive Kultur nennen, z. B. unsere Sprache. Will er den Schritt zu Kunst tun, muss er seiner objektiven Kultur, also derjenigen Kultur aller Menschen, etwas abringen, sodass sich aus dem Objektiven eine objektivierte Form herausbilden kann und in einer objektivierten Wirklichkeitsform eine höhere Form zeigt. Um das besser verstehen zu können, weise ich drauf hin, dass wir aus unserer Sprache eine objektivierte Form bilden können, in dem wir ein Gedicht entwerfen. Das Gedicht ist die Kunstform. Die Kunstform ist frei von allem Zweck- und Nutzendenken und dient allein der Realisierung des Schönen hin zur Schönheit. Dass ist die Form, die Kunst. Dazu bedarf es eines besonderen Willens zur Kunst, einer Idee, Talent und Handwerk.

Mein berühmter Kollege goss hier nur alten Wein in neue Schläuche.

Im Übrigen möchte ich Sie an unsere Vereinbarung erinnern, heute über die Kunst zu reden und nicht über Künstler. Dann hat man das Werk vor Augen und nicht den Künstler.

?: Okay. Ich sehe um mich herum Gemälde und Zeichnungen, die in altväterlicher Manier geschaffen wurden: Leinwand, Ölfarben, Kohle, Kreide, Aquarell! Haben Sie ein wenig die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte verschlafen?

S.: Entwicklungen? Welche Entwicklungen? Woran sollte man sie ablesen können?

?: Beispielsweise an dem, wie sich die Künstler dem Zeitgeist gegenüber öffnen und Themen und Probleme der Gesellschaft aufgreifen. Viele Künstler zeigen hierbei hohes Engagement. Sie weisen in ihren Werken auf Unmenschlichkeiten hin, auf Kriege, Hungersnöte, soziales Elend. Sie wollen mit ihren Mitteln Schockerlebnisse beim Publikum auslösen, um die Menschen provokativ wachzurütteln. Alles das findet bei Ihnen nicht statt. Sie zeigen die schöne heile Welt der Farben und Formen. Doch heile ist in dieser Welt überhaupt nichts!

S.: Natürlich nicht. Jedoch möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Schockerlebnisse das freie Verhältnis von Werk und Betrachter stören. Das darf nicht passieren, denn dieses Verhältnis ist unverfügbar für jedes Zweckdenken. In diesem Sinne sind Schockerlebnisse als eine Nötigung anzusehen. Nötigungen haben jedoch in der Freiheit der Kunst nichts zu suchen. Die Bedeutung des Werkes muss immer aus der freien Form im Betrachter und allein durch ihn entstehen. Die dümmlichste Frage hierzu kennen wir aus dem Schulunterricht, wenn der Zeichenlehrer anlässlich einer Bildinterpretation fragt:

»Was will der Künstler uns mit diesem Bild sagen?« Die Antwort müsste lauten: »Nichts! Da er uns gar nicht kannte!« Denn ein Kunstwerk verweist immer nur auf sich selbst, nie auf anderes. Es ist, wie vorher schon gesagt, schlichtweg unverfügbar für jeden Zweck. Das gilt übrigens für Kunstwerke und Kinder(Erziehung) gleichermaßen. Anscheinend ist das nicht in die Köpfe der Menschen hineinzubringen.

Und dann möchte ich einmal wissen, was denn diese provokante Kunst, die ja nun schon einige Jahrzehnte abläuft, an Aufklärung gebracht hat? Im Gegenteil! Diese Arbeiten wirken rasch banal. Es ist immer nur eine Zeitfrage. Wenn ein Gräuel von anderem Gräuel abgelöst wird, ist einem das Werk, welches sich mit dem vergangenen Gräuel befasste, dann ein Gräuel. Das Verhältnis von Kunst und Realität ist äußerst sensibel. Da kann man nicht einfach losklotzen! Und die Frage, woran man Entwicklungen überhaupt ablesen kann, ist, soviel ich weiß, bis heute nicht geklärt

Die Kunst in ihrer Freiheit entwickelte und entwickelt sich nicht linear. Ganz im Gegenteil: sie liebt Sprünge! Mal nimmt sie aus einer vorangegangenen Epoche etwas, zeigt es neu in ihrer Zeit, oder verhält sich im guten Sinne geistig anarchistisch, in dem sie vergangene Formen völlig zerstört und alles neu zu zeigen vermag, eine total neue Welt: Dieses Spiel treiben die Künste auch unter sich: Einmal ist die religiöse Kunst (z.B. der Tempel!) als Architektur bestimmend für eine Zeit; oder vielleicht die Musik bestimmt das gesamte Kunstgeschehen, oder auch die Dichtung usw.

Xenokrates (396 v. Chr. bis 314 v. Chr.) Philosoph, Schüler von Platon, welcher von seinem Lehrer die „Philosophische Akademie“ in Athen übernahm und 25 Jahre lang führte. Xenokrates vertrat die Auffassung, dass einem Formwandel in der Kunst stets ein Bewusstseinswandel im Menschen vorausgehen muss.

Wie schwierig dieser Lehrsatz zu verstehen ist, möchte ich Ihnen erläutern und vor allen Dingen damit auch klar machen, in welch großen zeitlichen Räumen hier übergreifend gedacht werden muss. Beispielhaft kann man das vielleicht an den bedeutendsten Architekturgebilden zeigen, welche in allen Kulturen in der Regel im Zentrum stehen: Das ist der Tempelbau! Einen klaren Formwechsel, dem ein tiefgreifender Bewusstseinswandel vorausgeht, kann man an der Verwandlung des ägyptischen zum griechischen Tempel erkennen.

Wenn wir in die Kultur der Ägypter schauen, dann sehen wir, dass sie sich in sehr starkem Maße aus Architekturdenkmälern zusammensetzt, aus gewaltigen Bauwerken, die sich vor uns aufrichten. Die Ägypter haben riesige Tempelanlagen mit weit ausladenden und hohen Wänden gebaut, die zum Teil mit großen Gestalten an den Vorderseiten versehen waren. In die Mitte dieser riesig großen Wände, und zwar wirklich genau in die Mitte, setzten die ägyptischen Baumeister eine im Verhältnis zur Wandfläche eine kleine Öffnung. Nun kann man sich fragen, ›Wozu dient dieser eng wirkende Durchbruch in der Wand?‹ und ›Was sagt das Verhältnis dieses kleinen Lochs zur Monumentalität der Wandaufrichtungen aus‹?

Temple of Hathor  Quelle: insightvacations.com

Wer selbst einmal vor einer solchen Tempelwand mit ihren ungeheuren Dimensionen steht, erlebt diese Öffnung als ein Tor. Äußerst still und zugleich unerbittlich streng wirkt das Tor auf den Betrachter, und dieser Eindruck wird verstärkt durch die riesigen Gestalten, die bedrohlich erscheinen und deren Angesichte geprägt sind von tiefem Ernst und innerer Sammlung. Man könnte fast sagen, der ganze gewaltige Vorbau der Tempel ist nur um dieses Tores willen gemacht, das den Betrachter oder denjenigen, der darauf zugeht, förmlich in sich hineinzwingen möchte. Es wird gefordert, dass der Mensch durch dieses Tor hindurch soll. Das ist das Erlebnis, das die ägyptische Tempelwand dem Herannahenden bietet: Anstoßen an eine ungeheure Wand, hindurch gehen, über eine Schwelle treten und eine Grenze überschreiten, um in ein Inneres zu gelangen, das ihm völlig verborgen ist und möglicherweise große Gefahren enthält. Im Näherkommen schiebt sich diese Wand immer mehr dem Herannahenden entgegen und scheint zuletzt in ihn einzudringen. Ihre Gebärde zieht ihn förmlich in seine eigene Leiblichkeit hinein. Das ist das Urerlebnis des ägyptischen Menschen, das er vor dem beschriebenen Tor hat, das sein Schlupfloch in die Ewigkeit wird:

Von außen kommend wird er in den Tempel hineingezogen, er wird er-zogen. Seine Erziehung ist das Hineinziehen in die eigene Leiblichkeit, auch wenn sie durch Furcht hervorgerufen wird.

Die Verschlossenheit und sein dunkles Inneres weisen auf eine Kultur hin, deren wahres Leben nicht im hiesigen Dasein verankert ist, sondern im jenseitigen, im Nachtodlichen seine Heimat findet.

Ganz anders der Tempel der Griechen: er ist ganz und gar mit der Erde verbunden. Er hat einen ausgesuchten Platz in einer bewegten Landschaft, in deren Spannungslinien, an einem ganz gezielten ausgewählten Punkt. Der Tempel ist in die Erde gesetzt. Er ist nach allen Seiten offen, lässt das Sonnenlicht in sein Inneres hinein. Alles Dunkel ist fort. War der ägyptische Tempel ganz nach innen gewandt, so ist der griechische Tempel mit gleicher Entschiedenheit nach außen gewandt und steht wie ein Wesen auf der Erde. Seine Säulen bildete man nach dem Vorbild von menschlichen Maßen ab: Keine Säule ist gleich der anderen, jede hat ein eigenes Sein. Sein eigenes Ich! Der Tempel will von außen angeschaut werden. Er will, dass der Blick des Menschen frei um ihn herumschaut, herumgreift: ihn begreift! Und das Begreifenwollen der Welt durch Begriffe war der neue Bewusstseinswandel in der griechischen Kultur.

Heratempel II, sog. Poseidontempel, Mitte 5 Jh. v. Chr., Paestum. 
Quelle: Kunstgeschichte Europas, Herausgegeben von Martin Rabe & Georg Friedrich Schulz, Schuler Verlagsgesellscahft mbH, München

Immerhin war die These des Xenokrates so gut, dass sie bis ins 18. Jahrhundert reichte, wo dann Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768), Begründer der wissenschaftlichen Archäologie und Kunstgeschichte im deutschsprachigen Raum, Entwicklungen in drei Rangstufen einteilte: Jugend, Reife, Alter. Sein Entwurf behielt Gültigkeit eigentlich bis in unsere Zeit hinein, wenn überhaupt noch so differenziert gefragt wird. Doch ließen sich sämtliche Kunstäußerungen damit auch nicht erfassen. Also es ist so, wir haben keine Maßstäbe, um seriös sagen zu können, dieser oder jener Künstler arbeitet nach überholten Werkvorstellungen.

?: Ihre Erklärungen genügen mir nicht. Sie wirken wie an der künstlerischen Praxis und Wirklichkeit vorbeigedacht. Schauen Sie doch nur einmal, wie viele neue Materialien in das Kunstschaffen aufgenommen wurden, woraus sich dann völlig neue, bislang unvorstellbare Wirkungen erzielen ließen, die ganz aus der materialgerechten Bearbeitung durch den Künstler erwuchsen.

S.: Das stimmt. Die Kunstäußerungen sind an das Material gebunden und erhalten von ihm immer einen ganz bestimmten Duktus. Doch entstehen sie nicht aus dem Material. Sie entstehen aus Erkenntnissen. Diese werden durch den Künstler gleichsam an das Material herangetrieben und verwandeln es. Ein Marmorblock ist ein Naturstein. Trifft die Idee des Künstlers auf ihn, verwandelt sich seine Naturform in eine neue, eine Kunstform. Jetzt steht er vor uns als eine Idee in Marmor. Dabei wird übrigens nicht materialgerecht vorgegangen, denn der Künstler will ja gerade das Materielle, den Stoff überwinden, um ihm ein neues Sein zu verleihen. Er arbeitet gegen die Natur des Materials, die sich nicht leicht der Idee, dem Geiste beugt!

Jener große Einfluss des Materials von dem Sie ausgehen und der in der Zeit der Industrialisierung begann, bildet allerdings eine bedeutende Zäsur innerhalb des Kunstschaffens. Es verschaffte einem Streben nach Erfindung Einfluss auf die Kunst und verdrängte zunehmend die Suche nach Erkenntnis. Man kann den Eindruck gewinnen, dass an die Stelle der Erkenntnis die Erfindung trat.

?: Wenn für Sie die Realität des gegenwärtigen Lebens so wenig bedeutet, dann möchte ich gern wissen, welche Anlässe Sie zum Kunstschaffen treiben?

S.: Ich habe nicht zum Ausdruck bringen wollen, dass mir die Gegenwart nichts bedeutet. Im Gegenteil! Ich nehme alles aus ihr, nur eben anderes als Sie denken und vor allem auf anderem Wege und mittels anderer Darstellungsmethoden.

Zunächst glaube ich, dass ganz allgemein Kunstwerke deshalb geschaffen werden, weil die Menschen dasjenige, was sie an dem Gegebenen nur aus Ideen und Vorstellungen erfassen, dann auch in äußerer Form sehen und erkennen wollen.

Auf diese Weise sollen Vorstellungen und Ideen, die zum Gegebenen passen, erlebbare Wirklichkeit werden. Beide, Idee und Vorstellung, sollen sich dabei aus der Form reiner Betrachtung herauslösen und sich in die tätige Welt hineinverweben. Erst dann können sich die Menschen in ihm finden und auf diese Weise Bewusstsein von sich selbst, das heißt Selbstbewusstsein entwickeln.

Mit dieser These weise ich auf eine geradezu zeitnotwendige Forderung hin, nämlich den Menschen in einem sich immer virtueller darbietenden Weltgeschehen einen Weg wieder zu sich selbst zu zeigen. Ich möchte dies besonders betonen, denn die Kunst vermag hier große Wirkungsweisen zu entfalten.

Und nun stellen Sie sich einmal folgendes vor: Es gäbe in unserer Welt keine Kunstwerke! Welches Gefühl überträgt sich einem da? Vielleicht können Sie sich meine Frage anhand eines Beispiels noch besser klar machen: Denken Sie einmal, die Natur würde ihre gesamte Farbenpracht verlieren. Was wäre dann der Fall? Ich glaube, sie würde seelenlos wirken, wie tot, und diese Stimmung würde sich mit Sicherheit auf die Menschen übertragen. In den Farben tritt uns gleichsam das seelische Element der Natur gegenüber. Daraus ziehe ich den Schluss, dass ohne Kunst die Welt ihr seelisches Element verlieren würde. Sie wäre wie tot, aber ich halte es für möglich, dass niemand es merkt.

?: Wieder ein altmodischer Gedanke! Viel zu idealistisch!

S.: Haben Sie eine Ahnung! Wo wir gerade von Farben reden, möchte ich Ihnen einmal mein künstlerisches Anliegen erläutern: Malerei entsteht nur aus der Farbe. Ich glaube, darin sind wir uns einig. Die Farbe enthält ein geistiges Element, nämlich sich während des Malprozesses figurativ zu formen. Sie ist formimmanent! Sie bringt immer eine Form mit, aus der sich durch die ordnende Hand des Künstlers die Bildkomposition ergibt.

Jetzt kommt die wichtigste Frage: Welche Qualität gebe ich den Farben? Das ist entscheidend! Und hier setzt mein Bemühen ein, in meinen Bildern vom Leuchten der Farben wegzukommen, es gleichsam zu steigern bis hin zu einem »Glühen«.

Die Farbe erscheint also nicht mehr im Licht, sondern sie leuchtet aus sich selbst heraus. Jede Farbfläche verbirgt in sich eine eigene innere Leuchtquelle, gleichsam ein Innenlicht! Diesem Licht gehe ich nach, denn für mich kommt es aus einer neuen Dimension, einem neuen Raum, den es bislang in der Malerei noch nicht gab. In diesem Bestreben, also eine Lichtmalerei zu entwickeln, in einem völlig anderen Verständnis als die Impressionisten es noch hatten, stehe ich in einer jahrhundertealten Maltradition. Und wenn ich dieses Licht in mir nicht vorher finde, kann ich es auch nicht malen. Bin ich deshalb ein rückwärtsgewandter Künstler?

Jahrhundertelang griff man in der Kunst ohnehin vielmehr das auf, was immer gut war, und zeigte es jeweils neu. Originalität im Kunstschaffen kennt man erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts.

?:Trotzdem, irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie nicht in die heutige Kunstlandschaft hineinpassen. Es ist alles zu schön. Ihre Bilder und alles das, was Sie über die Kunst sagen.

S.: Dass Sie anscheinend so etwas wie eine Wasserscheu gegenüber dem Schönen haben, das hätten Sie mir zu Beginn unseres Gespräches sagen sollen. Ich hätte dann mit Ihnen in einer ganz anderen Weise gesprochen, so im üblichen Vernissagecode. Sie wissen schon, was ich meine, etwa über die Kreativität des Künstlers, dem Authentischen in seinem Werk oder wie man bewusst keine Kunst mehr machen will und bewusst auf jede Aussage verzichtet... was übrigens eine Aussage ist!

Dennoch finde ich es gut, dass Sie ein Empfinden für das Schöne haben. Das beweist, dass es noch in Ihnen ist, sonst könnten Sie es nicht empfinden.

In der Tat, es geht tatsächlich nur um das Schöne! Denn nur dafür haben die Menschen Wahrnehmungsorgane. Sie scheinen es jedoch nicht zu ahnen, da man sich überwiegend mit dem Gegenteil des Schönen beschäftigt, dem »Endlicherstorbenen«. Sie verstehen, das Gegenteil des Schönen ist nicht das Hässliche, sondern das Unlebendige. Zum Unlebendigen kann der Mensch nicht in Beziehung treten, da er selbst von ihm nichts hat. Die Menschen sind dafür nicht eingerichtet. Deshalb erkennen sie es auch nicht.

Sie redeten zu Beginn davon, dass man sich als Künstler aufklärerisch mit den großen Katastrophen zu beschäftigen habe. Ich frage Sie noch einmal: Was soll dabei herauskommen? Nach den beiden letzten Weltkriegen war man sich in Europa sicher, dass diese Ungeheuerlichkeiten nie mehr passieren würden, da man ja nun wisse, aus welchen Anfängen so etwas entsteht. Man betrieb sogar Friedensforschung! Doch was geschah? Die Kriege kamen mit gleicher Heftigkeit zurück.

Wenn man sich schon dem apokalyptischen Geschehen zuwenden soll, dann muss man es eben richtig machen, das heißt, das Wesen des Apokalyptischen aufzeigen, welches in der Verwandlung zum Neuanfang liegt.

Dem Apokalyptischem ist immer der Zukunftskeim enthalten, welcher im Endlicherstorbenen nicht darinnen ist.

Wir müssen uns dem Schönen zuwenden und es wie große Spiegel aufrecht in die Welt stellen, damit sich sein Gegenteil darin spiegelt und sich selbst entlarvt. Die Menschen können es nicht entlarven. Wir müssen uns auch um die Putzmittel für diese Spiegel kümmern und darum, dass diese ästhetische Dimension blank und rein ist. Das ist die Erziehung zur Kunst, welche leider immer mehr entfällt.

?: Also nochmal, mir klingt das alles zu idealisiert. Das kann man doch heute alles gar nicht mehr machen. Aber ich habe auch eine Frage, die am anderen Ende ansetzt: Was wäre denn, wenn heute die Künstler sich weigern würden, überhaupt noch Kunstwerke schaffen zu wollen?

S.: Ich erinnere daran, was ich vorher sagte über eine Welt ohne Kunst. Was dann wirklich geschehen würde, weiß ich auch nicht. Es gab mal so einen Moment, zur Zeit des ersten Weltkrieges. Aus Enttäuschung über die materialistisch orientierte Geisteskultur weigerten sich viele Künstler, für eine derartige Gesellschaft weiterhin Kunstwerke zu schaffen. Sie schufen bewusst eine Antikunst.

Aber was passierte dann? Der Kunstmarkt ignorierte diese Tatsache, denn er brauchte Ware. Die Abstinenz der Künstler war für ihn geschäftlich inakzeptabel und so erklärten clevere Schreiber und Kunsthändler genau dasjenige, was nach dem Willen der Künstler keine Kunst war, einfach doch zur Kunst. So etwas ist absurd und diese Absurdität hat sich bis heute allerdings erhalten: Kunst soll das sein, was man zur Kunst erklärt. So heißt die Devise. Ich muss Ihnen sagen, dass ich damit nichts zu tun habe, und sehe auch keinen Grund, derartiges Geschehen dem Kunstschaffen zuzurechnen.

?: Ja, und wie soll es dann nach Ihrer Auffassung weitergehen? Nach dem, was Sie sagen, könnte man ja meinen, dass seit der sogenannten Klassischen Moderne im Kunstschaffen nichts Wesentliches mehr hervorgebracht wurde.

S.: So absolut will ich das nicht verstanden wissen. Meiner Meinung nach geht es um zwei Positionen: Zum einen müssen diejenigen, denen die Kunst ein Anliegen ist, von dem Irrtum Abschied nehmen, die Kunst öffne sich in ihrer Bedeutung von selbst. Gerade das tut sie nie! Sie spricht »im Geheimen vom Geheimen«, wie Kandinsky das einmal ausdrückte. Alle Grobheit ist hier fehl am Platz. Deshalb muss man Kunsterkenntnis üben genauso, wie man alles üben muss, was man können möchte.

Und jetzt der schwierigere Teil: Im Blick auf den Weltraum, auf das Innere der Erde oder der Materie, im Blick auf die sozialen Verhältnisse der Gegenwart oder auch in ferne Zeiten zurück, überall stoßen wir an Grenzen, an denen unser Vorstellungsvermögen endet, da es sich auf die äußere, den Sinnen zugängliche gegenständliche Welt bezieht. Grenzen, hinter denen die an der Sinneserfahrung entwickelten Gedanken nicht mehr zu weiteren Wahrnehmungen führen. Alles wirkt so, als würden wir keine Antworten mehr auf die Fragen der Gegenwart finden, weil wir nicht weiterschreiten können. Genau an einem vergleichbaren Punkt standen zu Beginne des Jahrhunderts auch die Künstler der Gruppe der »Blaue Reiter«. Sie hatten die Frage, wie man Licht in einen Schaffensprozess hineinbekommt, dessen Wurzel nicht mehr dem Sinnfälligen also dem Gegenständlichen, entspringen könne. Diese Fragestellung ist heute auf alle Ebenen anwendbar und eine Antwort könnte lauten: Man muss brauchbare, das heißt, über das Sinnenfällige und über das Faktenwissen hinausführende Anschauungspraktiken entwickeln. Nur so könnten wir weiterschreiten und das erkennen, was es über die vorher angesprochenen Grenzen hinaus zu erkennen gibt. Zu diesem außergewöhnlichen Aufbruch, der mit einer Neuordnung des Verhältnisses von Mensch und Wirklichkeit beginnen muss, ist man so gut wie nicht bereit. Es gäbe eine große Veränderung. Das ist unbequem. Deshalb tut man weiter so, als sei die Sache klar, und genau diese Täuschung ist die Ursache für die Kunstkrise, von der heute so gern und vor allem klug geredet wird.

Jetzt möchte ich Ihnen aber noch in diesem Zusammenhang eine Frage stellen. Verschließen Sie bitte nicht Ihre Ohren, denn ich beginne wieder mit alten Zeiten: Wir wissen, dass die Bilderwelt des Mittelalters sich aus der Versenkung in die Texte der Bibel und des Heilsgeschehens ableiteten. Die Bibel war der große Offenbarer und Inspirator.

Mit Beginn der Neuzeit übernahm diese Rolle die Natur, beziehungsweise das Naturstudium. Die Natur war der Motivator. Sie inspirierte die Künstler und dieses Verhältnis hielt mindestens bis zum Ende des Impressionismus.

Und nun meine Frage: Was könnte es denn heute sein, das von gleichem Rang wie Bibel und Natur zum Inspirator für die Künste taugt? Was oder wer kann diese Position übernehmen? Ich habe auf diese Frage noch nie eine Antwort bekommen, haben Sie eine?

?: Natürlich nicht, denn so habe ich noch nie darüber nachgedacht.

S.: Bewusstseinswandel führt zum Formwandel, nicht nur in der Kunst. In welchen großen Dimensionen, versuchte ich Ihnen klarzumachen.

Meine Frage: Wodurch wird denn heute unser Bewusstsein geprägt? In einem meiner letzten Essays gab ich dazu bereits die Antwort. Das heutige Denken wird bestimmt allein aus der Sphäre des Ökonomischen. Sie bestimmt alles und ihr großes Ziel heißt „Wettbewerbsfähigkeit“, ganz gleich auf welchem Gebiet. Dieser Fetisch der Wettbewerbsfähigkeit zog sogar in die Schulen und Universitäten ein. Das alles legte ich ausführlich dar. Daran werden wir zu leiden haben, denn Wettbewerbsfähigkeit hat mit Kultur, welcher Kultur auch immer und Frieden und Freiheit gar nichts zu tun. Der Wettbewerbsfähigkeit rennen wir immer schneller hinterher.

Wenn also die Ökonomie der Bestimmer unseres Bewusstseins ist, dann muss sich die Kunst, so konträr dies auch klingen mag, aus dem ökonomischen Denken entwickeln. Jetzt aber aus neuem ökonomischem Denken. Oder präziser gesagt: das bislang über Jahrhunderte dauernde falsche ökonomische Denken fallen gelassen werden muss.  

Dazu bedarf es, dass wir uns einmal der Erkenntnis des Wesens dem Wesen unserer Arbeit nähern. Der Arbeitsprozess besteht doch darin, dass niemand für sich selbst allein arbeiten kann. Jeder arbeitet nicht für sich, sondern für einen anderen. Jeder ist darauf angewiesen, dass ihm ein anderer seine Arbeit abnimmt, die zweckdienlich ist, um entweder daran weiterzuarbeiten oder das Erarbeitete zu verbrauchen. Immer braucht es den anderen Menschen im Arbeitsprozess.

Wenn ich jedoch meine Energie daraufsetze, in Form von starken Wettbewerbsfähigkeiten den anderen zu übertrumpfen, endet das Ganze logischerweise in ein Kriegsspiel. Und genau das haben wir heute und ist bewusstseinsbestimmend.

Meine Frage: Wie soll denn aus einem derart egoistischen Denken Kunst entstehen, die in ihrem Wesen vollkommen selbstlos ist? Allein durch neues Denken, welches vom Denken für den Bedarf des anderen ausgeht!

Wir dürfen nicht dem Irrtum verfallen, mit dem gleichen Denken, mit dem wir die Katastrophe herbeiführten, könnten wir auch die Wende zum Besseren schaffen. Nein! Denn es war ja gerade „dieses Denken“, welches die Katastrophe herbeiführte. Wir können doch nicht glauben, dass man die Hilfe bekommt, in dem man jetzt alles besser managed. Es muss ein neues Denken her. Und zwar ein Denken aus der Kunst. Nur sie garantiert die Abwehr jeglichen Egoismus. Und nur das kann uns retten.  

© Martin Rabe & Sibylle Laubscher