• Ist Kunst Lehrbar?

Ist Kunst Lehrbar?

Über die Kunst, defizitäre Kunsturteile und Kulturgeschwätz

Teil I

Lernen kann man alles, man muss es nur wollen! Eine Behauptung, mit der wohl jeder schon Bekanntschaft machte. Kaum einer wurde von ihr verschont. Vor allem während der Schulzeit diente dieser kernige Satz als Mahnung oder Mutmacher, sich etwas Bestimmtes zu erarbeiten. Die Behauptung, alles sei erlernbar, in der Regel von Eltern und Lehrenden ausgesprochen, passt jedenfalls auf alles, allerdings mit einer Einschränkung: er gilt nicht für das Gebiet der Kunst! Dort herrschen wohl andere Bedingungen und Einflüsse, die sich  ableiten lassen aus so etwas wie Begabungen: einer hat sie, die meisten haben sie nicht und auch niemals! Da spielen Intuitionen eine entscheidende Rolle oder Fähigkeiten, mehr wahrnehmen zu können als andere Menschen, gleichsam hinter die Dinge oder über sie hinaus schauen zu können etc. Wie auch immer: ob Kunst lehrbar sei und damit erlernbar, ist eine alte Streitfrage, die, um eine relevante Stellungnahme aufzugreifen, als Eingangszitat eines Prospektes der Düsseldorfer Kunstakademie so beantwortet wird: „Kunst ist nicht lehrbar. Es gibt keine Regel für die Kunst; sie entsteht aus dem Menschen, der Mensch und Welt erlebt und dies Erleben mit bildnerischen Mitteln niederschreibt.“ Dieses Zitat stammt von dem Künstler Norbert Kricke (1922 – 1984), Professor für Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf und in den Jahren 1972 – 81 deren Rektor. Interessante Frage so nebenbei: wer kennt Norbert Kricke heute noch? Er sah sich selbst als Künstler einer sogenannten „Kinetischen Kunst“ hervor und schuf Drahtplastiken. Wer kennt heute noch „Kinetische Kunst“? In den letzten Wochen wurde Jean Tinguelys (1925 – 1991) 100. Geburtstag in Basel groß gefeiert in dem von der Basler Familie Oeri gestifteten und ihm gewidmeten großen Tinguely Museum.

Bei Kricke handelt es sich um aneinander geschweißte Drähte, manchmal gebündelt, wiederum geknickt, dann verknäult oder sich flächig wölbend, dynamisch in den sie umgebenden Raum weisend. Für unsere Fragestellung ist die mittlerweile nicht mehr zu Diskussion stehende kinetische Kunst nicht bedeutsam. Die bekannteste Erfindung innerhalb der kinetischen Kunst ist das sogenannte „Mobile“ des US amerikanischen Künstlers Alexander Calder, (gestorben 1976). Es wird frei in den Raum gehängt als schwebende Bewegung, deren ausgreifende Arme von farbigen Platten behängt sind. Wie von einer nicht zu beobachtenden Kraftquelle soll dieses Mobile unvorhersehbar und selbstlenkend erscheinen. Es geht um die Rückkoppelung zu einem unbekannten Beweger, den der Betrachter selbst herbei ahnen muss. Letztlich soll der Betrachter sich auch als Beweger erleben.

Nun stellt sich die Frage, warum sich Kricke einer staatlichen Bildungsinstitution als Lehrer für ein Fach zur Verfügung stellt, dessen Inhalt seinen eigenen Worten nach nicht vermittelbar ist, beziehungsweise wieso ein derartiges Zitat dem Vorlesungsverzeichnis einer Kunstakademie vorangestellt wird, wenn doch Kunst nicht lehrbar sein soll?

Bevor dies weiter erörtert wird, möchte ich auf eine im Kricke Zitat enthaltene Falle und ihren absurden Aspekt hinweisen, die Kricke anscheinend nicht bemerkte. Die These: „Kunst ist nicht lehrbar,“ entpuppt sich in ihrer Logik als handfester Lehrsatz, denn es kann nun darum gehen, sich mit der Frage der Unlehrbarkeit von Kunst auseinanderzusetzten.  Diese zu beantworten, kann ausgesprochen lehrreich sein. Man bekommt vor allem Aufklärung über das Verhältnis der Menschen, der Rezipienten zu den Werken der Kunst.

Nun ist es allerdings allgemein gar nicht üblich, sich überhaupt auf die Begegnung mit Kunst oder besser gesagt, mit Kunstwerken vorzubereiten, so wie man sich üblicherweise immer auf Begegnungen und Tätigungen vorbereitet. Die Begegnung mit Kunstwerken wird überwiegend von Sympathie und Antipathie geprägt. Das reicht wohl! Sie ist von Beliebigkeit, Lust und Unlust geprägt mit sich anschließendem Kulturgeschwätz. Nützlich ist sie ohnehin nicht und wirkliche Notwendigkeit für die Gestaltung der Lebensverhältnisse der Menschen wohnt ihr nicht inne. Sie ist schöner Schein, dient der Erbauung und was erbaut, das findet sich von selbst. Man ahnt vielleicht, dass in den Werken der Kunst etwas Gesetzmäßiges oder Regelhaftes sein muss, doch geht man diese Ahnung kaum nach. Sie ist unwichtig. So schwerelos wie man die Artisten in der Zirkuskuppel erlebt, denen man nichts mehr anmerkt von den strengen Gesetzten des Fliegens und des Kunststückes, so unbeschwert, dass heißt bequem und dann ohne Kenntnis der inneren Werkstruktur ihrer Objekte, begegnet man der Kunst und fällt dann auch noch Urteile über sie. Man übernimmt auch blind Urteile, vor allem wenn sie von sogenannten Experten gefällt werden. Diesen Urteilen ist man regelrecht ausgeliefert, da man eigene Kunsterkenntnisse nicht erübte und deshalb selbst nichts Erlebtes dagegen zu setzten hat. Das Fragewesen in der Kunst ist nicht entwickelt. Das große Publikum bleibt in der Regel ahnungslos und wird zu willfähriger Masse eines raffinierten Kunstmarktgeschehens. Nicht selten befindet sich darin installierte Geldwäsche.

Wenn wir über Kunstwerke sprechen, fällen wir Urteile. Dessen sollte man sich bewusst sein. Wir fällen ästhetische Urteile. Und so wie ein Richter Gesetzbücher, also Regeln, Kategorien, zur Urteilsbildung heranzieht, genau so müssen auch ästhetische Urteile, also Kunsturteile, durch Kategorien bestimmt sein. Mindestens die Kunstgeschichte als Form einer Stilgeschichte weist nach, dass es Epochen und Kategorien gibt, die vernünftig aufgearbeitet wurden und wenn man über ihre Kenntnisse verfügt, kann man sich auch mit anderen Menschen über Kunstwerke verständigen. Über diesen Weg erweist sich Kunst als kommunikabel. Sie entwickelt zwar ihre Wirkung im einzelnen Subjekt, ist aber darüber hinaus in ihrer Aussage frei für alle Menschen, die lernten, künstlerisch wahrnehmen zu können.  Mindestens! Notwendig wären zusätzliche Kenntnisse über die Seins- und Existenzweise von Kunst. Darüber werde ich später ausführliche Erklärungen abgeben. Um es deutlicher zu sagen: im Folgenden will ich nicht erklären, was ein Kunstwerk als Kunstwerk seiner Natur nach ist. Mir geht es zunächst nur darum, wie wir uns der Existenz- und Erscheinungsweise von Kunstwerken angemessen oder unangemessen nähern. Und könnte es denn nicht sein, dass durch Kunsterkenntnis selbst auch Lehre  ausgeht, die für ein weiteres Kunstschaffen und Kunsterleben gute Grundlagen bildet?

Sie bemerken vielleicht, dass ich behutsamer vorgehen möchte, als es Herr Kricke in seinem Zitat tut, in dem ja eine versteckte Behauptung enthalten ist: „Kunst ist…!“ Nur so kann er ja davon reden, dass Kunst nicht lehrbar sei, wenn er weiss, was ein Kunstwerk ist. Auf diese Frage komme ich später ausführlich zurück.

Schauen wir den zweiten Satz des Zitates an: „Es gibt keine Regeln für die Kunst.“ Würde das stimmen, wären beispielsweise jene Werke der antiken griechischen Kunst, der mittelalterlichen Malerei, die gesamte Ikonenmalerei etc., also alle Kunstwerke, denen ein genaues Regelwerk zu Grunde liegt, nicht zur Kunst zu rechnen. Der Kanon, wie man ein verbindliches Regelwerk bezeichnet, sah beispielsweise im antiken Griechenland so aus:

Der Kanon

Das Richtmaß, eine Musterfigur der richtigen Größenverhältnisse zu schaffen, führt zu folgender verbindlicher Regel für die Erschaffung einer Skulptur:

-         Tiefe Ruhe bei lockerer Beweglichkeit

-         Schöne Leichtigkeit bei schwerer Bildung der Teile

-         Freie Natürlichkeit der Haltung bei strengster Abmessung und Erwägung der Verhältnisse

Es ist dies die kanonische Verwirklichung einer selbstmächtigen Kunst. Ästethisierung (Formgebung) und Logifizierung als Spannungsfeld wirkt hier wie ein Lebensgesetz. Es ist ein bewegtes Gleichgewichten.

Aus diesen Regeln entsprangen Werke höchster Vollkommenheit, die selbst der kritischen Hinterfragung eines Immanuel Kant stand hielten: „Kann das wahrhaft Schöne einer Regel entspringen?“ Kant redete sicherlich nicht der Beliebigkeit in der Kunst das Wort, denn gerade er war es ja, welcher in seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“, die grundhaftesten Kategorien der Ästhetik niederschrieb, deren Gültigkeit bis heute fortdauert und deshalb immer wieder in Diskussion herangezogen werden. Ihm kam es darauf an, dass Kunstwollen von Kunstschaffen zu trennen, um beides dann im Subjekt selbst wieder zu vereinen und dadurch allein einer inneren Wahrheit verpflichtet zu sein, die sich in freien Formen im Subjekt von selbst entfalten. Und genau so entwickelte sich die Kunst in Griechenland weiter, indem im vierten Jahrhundert vor Christus der Kanon, also die klare Regel, ein Gegenstück erhielt: die Kunst als reine Schönheit. Eine Entwicklung vom Regelwerk zur freien Schönheit. Freie Schönheit allerdings bedarf immer der Notwendigkeit der Form. Sie entwickelt sich stets aus Begrenzung. Geleistet wird diese Bildung aus der Phantasie des Künstlers, im dem er das „Absolute mit der Begrenzung zusammenbringt und in das Besondere, die ganze Göttlichkeit des Allgemeinen abbildet“ (Immanuel Kant). Das Kunstwerk ist also immer ein Produkt des Willens, des Kunstwollens und der freien Phantasie des Menschen, jedoch immer aus Begrenzung. Das ist seine Form. Ohne Begrenzung könnte das Grenzenlose nicht erscheinen. Und so macht Kunst das Zeitlose durch Begrenzung in Zeit sichtbar. So viel zu den Regeln.

Kricke redet dann weiter davon: „Die Kunst entsteht aus dem Menschen, der Mensch und Welt erlebt.“ Wir haben es hier mit einer Binsenweisheit zu tun: denn das Kunstschöne unterscheidet sich vom Naturschönen dadurch, dass es vom Menschen gemacht ist und zwar für Menschen. Kunst entwickelt ihre Seins- und Existenzweise nur im und durch den Menschen und auch nur in denjenigen Menschen, welche den Willen zur Kunst und zum Kunstwerk aufbringen. Es wird auf ein Verhältnis hingewiesen von Mensch und Welt, das so ist, wie es ist, beziehungsweise immer so war, wie es war. Anders ausgedrückt: Es ist die eigentliche Sache, das Kunststück schlechthin, um das es seit jeher ging. Rückt man jedoch diese Tatsache, das Kunststück, bzw. das Kunstwerk in die Nähe von Krickes im Zitat festgestellten „Regellosigkeit“, dann kann der Eindruck entstehen, dass das Verhältnis von Mensch und Welt, einem Zufälligen oder einem Zufall unterliegt. Ein verbreiteter Gesichtspunkt zu dem die Vorstellung eines Urknalles, aus dem alles entsprungen sein soll, gut passt. Unsere Welt sei, so wie wir sie erleben, das Ergebniss vieler Zufälle. Unterstützt werden solche Denkweisen durch Begriffsbildungen, wie z. B. jenen der Synergetik, in welchem sich ein interdisziplinäres Fragen verbirgt, nach gemeinsamen Wesenszügen von Erscheinungen völlig verschiedener Wissensgebiete. Dieses Denken passt sehr gut zu dem Rückkoppelungseffekt der kinetischen Kunst und wurde vor allen Dingen von den Kybernetikern Ende der 60er Jahren unter das Volk gebracht, so wie es Herr Kricke auch pflegte.

Von Seiten der Kunst aus, nach der Sinnstrucktur des Ganzen gefragt, beziehungsweise das Verhältnis von Mensch und Welt als ein sinnvolles Verhältnis anzusehen, erscheint die Schöpfung nicht wie ein Zufallstreffer von an sich sinnlosen, das heisst regel- und gesetzlosen Ereignissen. Man darf der Schöpfung nicht eine Fähigkeit absprechen, die man für sich selbst als Teil der Schöpfung in Anspruch nimmt: nämlich zu sinnvollen Handlungen fähig zu sein. Wer von sich selbst annimmt, Sinnvolles planen und in die Tat umsetzten zu können, versteht sich dann selbst entweder als ein Wesen außerhalb der Schöpfung oder er muss der Schöpfung – bei Kricke die Welt – die gleichen Fähigkeiten bescheinigen wie sich selbst als Wesen der Schöpfung. Das Letztere führt zu der logischen Einsicht, dass es Regeln und Prinzipien gibt, die gültig sind und immer gültig waren.

Wenden wir uns nun dem letzten Teil des Kricke Zitates zu, in dem er davon redet, dass der Mensch, so wie er Mensch und Welt erlebt, dies „Erleben mit bildnerischen Mittel niederschreibt.“

Zunächst ist doch einmal die Frage, warum der Mensch, so wie er die Welt erlebt, nicht bei seinem inneren Vorstellungsleben, also seinen inneren Bildern verhaftet bleibt? Warum genügt ihm die Welt der Imaginationen nicht? Die Antwort: weil die Menschen durch das Schaffen von Kunstwerken dasjenige, was sie sonst an den Dingen nur in ihren Ideen und Gedanken erfassen, auch in äußere Anschauung vor sich haben möchten. Gedanken und Ideen sollen wahrnehmbare Wirklichkeit werden. Die Gedanken sollen dabei die Form reiner Betrachtung verlassen und in die schaffende Welt übergeführt werden. Erst so können die Menschen sich in ihren eigenen Gedanken entdecken und auf diese Weise Bewusstsein von sich selbst entwickeln. Elementar in dieser Vorgehensweise ist vor allem anderen die Formbildung, beziehungsweise die Formfrage. Das Reich der Form ist aber genau das Reich der Kunst. Sie öffnet uns ein zweckfreies Zeichensystem und erhält ihre innerliche Bedeutung allein und immer wieder im Erleben und Erkennen durch den Kunst wahrnehmenwollenden Betrachter. Dieser schreitet vom Gesehenen zum Erkannten. Die Form bildet ihm dazu die Brücke vom Gegenstand zum Sinn. So definiert sich dasjenige, was eine Form ist. Dabei ist es entscheidend, die Form frei von Zwecksetzungen zu halten. Nur so ist die Freiheit der Kunst und der Kunstwahrnehmung gewährt.

Ich möchte nun die Besprechung dieses Zitates verlassen, welches einen Kunststudenten kaum beeindrucken kann und nicht beeindrucken sollte, weil sein Inhalt falsch ist. Es ist Geschwätz. Warum ich auf Kricke, einen Künstler der 1970er Jahre, zurück griff, werde ich später noch begründen.  

Wenden wir uns lieber Goethe (1749 - 1832) zu, welcher sich unablässig zum Kunstschaffen äußerte und auf die Notwendigkeit einer Kunstlehre verwies. In seinem Werk, „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, im 9. Kapitel des 7. Buches, schreibt er: „Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit flüchtig. Handeln ist leicht, denken schwer; nach dem Gedanken handeln, unbequem. Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung. Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt ihn, er lernt spielend, der Ernst überrascht ihn. Die Nachahmung ist uns angeboren, der Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, noch seltener geschätzt. Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge, wandern wir gerne auf der Ebene. Nur ein Teil der Kunst kann gelehrt werden, der Künstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet  viel; wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten oder spät… des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf, denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nähert sich dem Meister.“

Immerhin behauptet Goethe, dass wenigstens ein Teil der Kunst lehrbar sei, er geht also weiter, als wir es von Kricke hörten.

Ich möchte noch einen weiteren Zeugen von vielen anderen für die Lehrbarkeit der Kunst anführen. Es ist der österreichische Dichter (ein Künstler!) Adalbert Stifter (1805 - 1868), welcher vor allem auch Pädagoge war und ein umfangreiches pädagogisches Werk verfasste: „Die Schüler sollen durch unmittelbare Anschauung kennen lernen und eine Übung in Unterscheidung derselben erlangen. Sie sollen in der Naturlehre die wichtigen Naturgesetzte, die man durch Anschauung und ohne besondere Hilfe durch Mathematik ergründen kann, fassen, aus ihnen die wichtigsten Naturerscheinungen erklären und die einfacheren Anwendungen derselben auf die Technik kennen lernen.“ Stifter plädiert hier für die unmittelbare Anschauung der Natur, um sie kennen, verstehen und ihre Gestaltungsprinzipien erkennen zu lernen. Seine Vorgehensweise entspricht ganz genau dem Prinzip der sinnlichen Wirklichkeitswahrnehmung, die stets die Voraussetzung für ein grundhaftes künstlerisches Schaffen ist.

Wenn es sich tatsächlich erwiesen hätte, dass das Schaffen von Kunstwerken nicht lehrbar sei, dann hätte es bis heute nie Entwicklungen in der Kunst geben können. Wir hätten keine Kunst mehr! Denn nur über ihre Lehre blieb sie uns bis heute erhalten.

Nehmen wir beispielsweise die über 3800 Jahre währende ägyptische Kunst und Kultur mit ihren machtvollen Architekturen, Figuren und künstlerisch gestaltete Gräbern. All das ist uns bis heute oftmals deshalb so lebensnah wirkend erhalten geblieben, weil allem eine gefestigte Lehre zugrunde lag. In Lehrwerkstätten wurde gründlich ausgebildet und die Könnerschaft an die nachvollgende Generationen weiter gegeben. Dem Kunstschaffen ist immer eine Lehre vorausgegangen und man arbeitete über Jahrhunderte an dem weiter was immer gut war. Genau dieses Prinzip ist mindestens bis zur Neuzeit in der Lehridee des Bauhauses erhalten geblieben. Sie wurde von Walter Gropius (1883 - 1969) 1919 in Weimar entwickelt und wirkt bis in unsere Tage vorbildhaft weiter.

Doch warum haben wir mit der Lehre von Kunst heute derartige Verständigungsprobleme, welche unter den Beteiligten nicht selten zu regelrechten Fehden führen?

Diese Frage möchte ich an drei Textbeispielen erörtern, die allesamt aus der NZZ von ganz unterschiedlichen Autoren stammen, um danach eigene Einschätzungen vorzustellen. Die Autoren dieser Texte könnten unterschiedlicher nicht sein, vor allem in Bezug eines grundhaft gesicherten Wissens über das Gebiet der Kunst.

Einmal geht es um den Text „Kunst und Bedeutung“, von Peter Meyer, aus dem Jahre 2005. Anlass hierzu bot ihm genau solch eine Streiterei, „ein Wirbel“ in der Kunstdiskussion, welche weltweit Schlagzeilen in die Medien brachte. Der Künstler, um dessen Kunst es ging, war Thomas Hirschhorn und seine Ausstellung in Paris desselben Jahres. Dieser Beitrag ist heute noch für jeden Interessierten im Internet abrufbar, sodass bei genügend Interesse der Angelegenheit selbst nachgegangen werden kann, um sich auf diese Weise ein eigenes Urteil bilden zu können.

Seine Gedanken beginnt Peter Meyer mit folgenden einleitenden Satz: „Die Kunst macht es uns derzeit nicht leicht.“

Beinahe genau so beginnt der Autor des zweiten Textes: "Ist das Kunst?" von Gerhard Mack zwanzig Jahre später: „Das Gegenwartskunst auf den Hund gekommen ist, denken viele Zeitgenossen die damit Verständnisprobleme haben.“

Nun verfügt nachweislich Gerhard Mack kaum über den guten Schreibstil eines Peter Meyer, vor allem aber nicht über dessen profundes Wissen. Das zeigt sich schon in diesem ersten ähnlichen Satz: denn eine „Gegenwartskunst“ gibt es nicht, weil es sie nicht geben kann. Das ist typisches Kulturgeschwätz. Gegenwart dauert nur einen Augenblick und ist die Bezeichnung für einen Zeitpunkt. Sie beschreibt den Übergang von der Zukunft in die Vergangenheit, bzw. es gibt keine verbindliche Anschauung, wie lange sie dauert, sie ist nichts Festes, sondern flüchtig. Vielmehr wird die Kunst durch die Kunsthistorie in Epochen eingeteilt, ist damit immer ein Blick in die Vergangenheit, vielleicht noch in Zeitabschnitten, sogenannten „ismen“, wie „Impressionismus“, „Dadaismus“ usw. Wenn Peter Meyer schreibt: „Die Kunst macht es uns derzeit nicht leicht“, dann ist das richtig. Die Oberflächlichkeit eines Gerhard Mack hat bei ihm kein Platz. Mack selbst ist stets gut informiert, verfügt allerdings über viel zu wenig gesichertes Grundwissen. Über beide Autoren werde ich an Beispielen aus ihren Texten von ungenauen Darlegungen (Peter Meyer), defizitären Kunsturteilen (Gerhard Mack) und Kulturgeschwätz Urteilen. Im dritten Text der Autorin Silvia Tschui, "Ein Hoch auf den Fehler", der NZZ vom 16. März 2025 über die Textilkünstlerin Claudia Caviezel, wo die „Kreativität“ einer Künstlerin in Zeiten des KI im Vordergrund steht. In diesem Text gibt es nicht einmal ansatzweise etwas zu verstehen, weil selbst geringste Restinhalte von Wissen über Kunst nicht mehr auffindbar sind. Das werde ich ebenfalls nachzuweisen versuchen. 

Erstaunlich bleibt der Eindruck, wie die Bildung und das inhaltliche Niveau des Kunstjournalismus nicht nur in der NZZ erschreckend und rasch innerhalb von 20 Jahren deutlich verflachte. Beispielsweise scheut sich aktuell die NZZ nicht, folgende Rubrik aufzunehmen: „Schwerpunkt: Highlight aus Kunst und Kultur“. Höhepunkte im flotten Designer English „Highlights“ genannt sind in den Bereichen der Kunst selten und zur Zeit ihres Entstehens kaum erkannt und verstanden worden. So etwas gibt es gar nicht. Wahr etwa die „Mona Lisa“ ein Highlight? Oder das Werk Caspar David Friedrich, oder die Musik von J. S. Bach, die erst 100 Jahre nach dessen Tod von dem Komponisten Mendelsohn Bartholdy  zufällig wieder entdeckt und verstanden wurde?

Wie ist es möglich geworden, dass derartig schlechte Texte gedruckt und von einer Leserschaft anscheinend kritiklos entgegengenommen werden? Es gibt dafür sicherlich nicht nur einen Grund. Darüber werde ich im nächsten Essay schreiben.   

© Martin Rabe & Sibylle Laubscher