• Kunst ist eine Herzensangelegenheit und kann nicht für Zwecke missbraucht werden

Kunst ist eine Herzensangelegenheit und kann nicht für Zwecke missbraucht werden

Mit meinem neuen Newsletter möchte ich auf einen aktuellen Aufruf reagieren, mit welchem sich zwei Schülerinnen der Bäumlihofschule Basel, an die Künstler wandten, ihnen für den Abschluss einer Projektarbeit behilflich zu sein. Johanna, 14, und Anna, 15 Jahre alt, bezeichnen sich selbst als kunstbegeistert und möchten in einer Kunstausstellung, die sie organisieren, auf die „Widersprüche der heutigen Gesellschaft“ aufmerksam machen. Es soll um „Themen gehen, wie Klimawandel, Rassismus, Sexismus usw.“ Sie möchten die Menschen „zum Nachdenken anregen“ und sagen: „Kunst ist ein wundervoller Weg, dies zu erreichen, denn sie sagt manchmal mehr als Worte.“

Über diese Absicht kann man sich freuen, weil sie von initiativem, praktischem Handeln zeugt, etwas, was in einem zunehmend einseitig digitalisiertem Schulwesen immer seltener vorkommt. Deshalb schreibe ich jetzt auch bestens motiviert und versuche einmal mehr, Anregung zu geben oder gar Ideen beizutragen.

Für das „Wunderbare“ in der Kunst, von dem die beiden jungen Mädchen sprechen, hatten sie ganz sicher besondere persönliche Erlebnisse. Mehr oder weniger bewusst öffnete Ihnen ihre Kunstfähigkeit den Weg zu Phänomenen in ihrer Welt, die sie so bislang nicht wahrgenommen hatten und deshalb als Wunder empfanden und deuteten. Zu derartigen Elementarerlebnissen vermag uns die Kunst tatsächlich zu führen. Ihr Wesenszug, stets über das Faktische, das Alltägliche hinaus den Menschen das Andere, das Mögliche zu zeigen, weitet unsere Sinne zu einem Erleben, welches über die Enge des Alltags hinausführt, ihn dadurch dehnt und uns ein Gefühl von immer neu erworbener Freiheit gibt. Kunst vermittelt das Wunder der Freiheit erfolgreich an die Menschen, weil die Freiheit naturgegeben dem Wesenskern der Menschen inne wohnt. Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand werden von der Freiheit beflügelt zu einem Mittelpunkt hin, welcher im Menschen selbst begründet liegt und aus der er seine subjektive Freiheit heraus bildet. Kunst ist eine Herzensangelegenheit des Menschen. Deshalb wird sie nicht von der Natur, sondern von Menschen für Menschen gemacht und ihre Werke sind immer Zeugnisse und Bekenntnisse von Freiheit. Ihnen wohnt der Charakter des Unendlichen inne und deshalb spricht man auch von der sogenannten „internen Unendlichkeit eines Kunstwerkes“. Es ist aus sich selbst heraus unendlich oft von unendlich vielen Menschen unbegrenzt erlebbar und wie von den Schülerinnen als etwas Wunderbares zu erleben. Deshalb wirken auch sehr alte Kunstwerke immer noch äusserst lebendig auf uns Menschen.

Wir halten also fest: Kunst wird von Freiheit bewussten Menschen gemacht und ist stets ein Zeugnis von dieser Freiheit. Daher muss auch das Verhältnis von Kunst wahrnehmenden Menschen und dem Werk freibleiben und durch nichts beeinflusst werden. Auch hier muss Freiheit herrschen ohne irgendwelche Nötigung, zum Beispiel durch Schockerlebnisse, womit zahlreiche Künstler gerade der Gegenwart gerne spielen.  Ein vollkommen falscher Ansatz, denn schockieren engt ein.  

Auf diese entscheidenden Punkte werde ich gegen Ende meiner Ausführung wieder zurück kommen.

Johanna und Anna wollen in ihrem Projekt ganz gezielt die Kunst in eine Beziehung zur Gesellschaft setzen, um gleichsam die Aufmerksamkeit der Menschen zu wecken. Vielleicht haben die beiden eine Botschaft?

Hierzu ist sicher eine Tatsache nicht uninteressant, dass nämlich in den Strukturen des modernen gesellschaftlichen Lebens normalerweise der Kunst fast keinen Raum und damit keine Mitgestaltungskräfte gewährt wird. Unsere Gesellschaft wird in allen Bereichen von rein ökonomischem Denken materialistisch und nicht idealistisch bestimmt. Die Freiheit ist jedoch ein Ideal, dass Materielle demgegenüber ein messbarer Wert. Allerdings hat mittlerweile ein auswuchender Kunstmarkt auch der Kunst dieses rein materialistische Getöse einverleibt und ihre Wunderfähigkeit drastisch beschnitten.

Wenn dem so ist, dass heilsame Gestaltungskräfte, welche aus der Kunst in die Gesellschaft fliessen könnten, nicht von der Gesellschaft abgerufen werden, dann ist es doch erstaunlich, dass in dem geschichtlichen Moment, wenn Diktatoren in Staaten auftreten, die Macht und Herrschaft ausüben wollen über das Denken und Handeln von Menschen, zu aller erst gerade die Künstler verfolgen, sie ins Gefängnis werfen, ihre Werke entfernen oder gar verbrennen. Dann sind Kunst und Künstler auf einmal doch bedeutsam für das Volk und zwar genau aus dem Grunde, welchen ich vorher erklärte: Künstler und Kunstwerke sind immer Bekenner und Bekenntnisse von Freiheit. Sie sind widerständig und lassen sich für keinen Zweck vereinnahmen. Sie bilden durch ihre Unabhängigkeit eine Provokation und entblößen die Diktatur. Nicht zufällig ist auch die Blütezeit der Freiheit immer auch die Zeit großen künstlerischen Fortschritts oder anders herum gesagt: eine Diktatur zeigt durch Verbote und Missbrauch von Kunst die katastrophalste Form im Umgang mit den Künstlern und deren Werke. Dennoch wollen auch Diktatoren auf Kunstformen nicht verzichten, sondern im Gegenteil, sich mit ihnen in Glanz und Gloria schmücken. Und genau dann geschieht etwas, wodurch die Kunst vergewaltigt und ihr die Freiheit genommen wird: sie wird einem Zweck zugeordnet, sie muss der Propaganda dienen und dazu einer Dogmatik gehorchen. Man nennt das den sogenannten „ästhetischen Sündenfall“. Alles unterliegt nun einer Ideologie, einem Programm, ganz gezielt einem Zweck zu dienen, Unfreiheit und Macht den trügerischen Schein des Glanzes zu verleihen.

Wir verstehen an diesem Beispiel, wie falsch es ist, der Kunst einen Zweck zu unterschieben, ganz gleich welcher es auch sein mag. Ein Kunstwerk ist nicht verfügbar in dem Sinn, dass es instrumentalisiert werden kann. Es kann nicht vernutzt werden. Es kann nicht für etwas vereinnahmt werden. In dem Augenblick, wenn ein Kunstwerk eine Parole transportiert, ist es kein Kunstwerk mehr, sondern ein programmatischer Text. Das kann ein Werbetext sein oder wie vorher erwähnt politische Parolen. Wesentlich ist also, dass ein Kunstwerk immer frei ist von jeglicher Zwecksetzung und alle diese gerade in der Gegenwartskunst immer zahlreicher auftretenden Formen, die von Zweckgebundenheit und Absichten geprägt sind, können natürlich nicht in Anspruch nehmen, Künste zu sein. Der einzige Zweck der Kunst ist ihre Zweckfreiheit. Dem steht gegenüber etwas ganz anderes, nämlich der Sinn eines Werkes. Sinnhaftigkeit wird sich den Sinnen des Rezipienten, des Betrachters öffnen als etwas, was aus Freiheit spricht und deshalb von jedem Menschen auf seine ganz persönliche Art und Weise erlebt werden kann. Dies Erleben ist immer einzigartig in einem freien Subjekt.

Es gibt hier eine berühmte Zwischenstellung, also ambivalente Dinge. Eine möchte ich erläutern, das ist die immer schwierige Sache mit einem Altar. Jemand, der einen Altar betrachtet, ein gläubiger Mensch, für den ist der Altar im Rahmen der Liturgie ein ritueller Gegenstand. Er dient dem Zweck, die Offenbarung der Bibel durch gemalte oder geschnitzte Bilder, zum Teil in prunkvollen Flügelälteren während der Gotik den Gläubigen vor Augen zu führen.

Ein Kunstbegeisterter, welcher eine Kirche besucht, der vielleicht an der religiösen Offenbarung nicht interessiert ist, betrachtet den Altar als ein Kunstwerk. Also ein Altar kann für den einen ein reines Kunstwerk sein, ohne Zweck, für einen anderen hat der Altar einen Zweck, und zwar dann, wenn er kein Kunstwerk, sondern ein ritueller Gegenstand ist. Es können in ein und demselben Augenblick während eines Gottesdienstes, wenn Menschen vor dem Altar beten, zugleich sogar Touristen auftauchen, um den Kunstcharakter des Kunstwerkes zu genießen, während für die anderen, die vor ihm beten, der Altar eben kein Kunstwerk ist, sondern die Erscheinung von Glaubensoffenbarungen.

So kann ein Altar beides sein: ein ästhetischer Gegenstand oder ein ritueller Gegenstand. Rituell dient er dem Zweck, der Liturgie und der Andacht. Ästhetisch ist er davon vollkommen frei, erleb- und deutbar. Das heißt jetzt nicht, dass das eine oder das andere eine Abwertung ist, sondern es ist einfach eine andere Bestimmung. Und man muss eben klar machen, gerade bei sakraler Kunst, ob es ein ritueller oder ein ästhetischer Gegenstand für den einzelnen Menschen ist. Interessant: ein Altar verliert dann seinen rituellen Charakter, wenn er ins Museum gebracht wird, in einen besonderen Raum. Dann ist er nur noch ein ästhetischer Gegenstand. Wir stellen fest, dass es auch von Bedeutung ist, wo ein Kunstwerk erscheint.

Dieses Beispiel des Altars führt uns aus einem möglichen Dilemma heraus, welches unsere kunstbegeisterten jungen Mädchen vielleicht auf sich zukommen sehen in ihrer gut gemeinten Absicht, mittels der Kunst auf Widersprüche in der Gesellschaft hinweisen zu wollen und der Kunst dadurch ungewollt einen Zweck unterschieben zu müssen und sie dadurch zu entwerten. Der Altar erfüllt einerseits tatsächlich einen Zweck doch gleichzeitig aber auch etwas anderes, welches über den reinen Zweck hinausweist in die freien Formen der Kunstwelt. Er hebt sich ab, indem er auch einen überreligiösen künstlerischen Sinn zu vermitteln vermag.

Man kann diesen vielleicht nicht leicht nachzuvollziehenden Prozess gut am Gebrauch unserer Umgangssprache verdeutlichen. Wir haben eine Sprache, mittels derer wir uns mit anderen Menschen verständigen können. Dazu hat sie eine objektive Form. Gleichzeitig haben wir aber auch die Möglichkeit, unsere Sprache zu einem Gedicht zu formen, welches sich von der Alltagssprache abhebt und eine andere, eine objektivierte höhere Kunstform annimmt. Also, so wie dem Altar beide Möglichkeiten (oder auch noch weitere) inne wohnen, so leben diese Spielarten auch in unserer Sprache, und ebenfalls noch weitere, zum Beispiel in Form des Gesangs.

Kunstformen sind immer abgehobene Formen, doch nicht in dem Sinne, dass sie keinen Realitätscharakter hätten oder gar wertlos sind. Ihr Wert ist eben ein anderer. Und aus dieser Anderheit gegenüber dem Gewohnten kann sie auf uns wunderbar, überraschend oder gar schön wirken und auch neue Weltsichten eröffnen.

Will man sich nun gesellschaftlichen Themen zuwenden, wie unsere beiden jungen Mädchen es ja wollen, dann muss man dieser soziologischen Absicht gleichzeitig einem übersoziologischen Sinn zuführen, welcher über das Gesellschaftliche hinausweist, so wie unser Gedicht über die Alltagssprache hinaus weist. Tut man das nicht, bleibt die Debatte im alltäglich Vordergründigen und auch manipulierten Parolen hängen,  präsentiert unseren Alltag noch einmal mehr, nur jetzt mit der Aura einer Ausstellung versehen, oder was gegenwärtig immer bevorzugt wird, ihre Erzeugnisse zeigen der Gesellschaft, wie sich diese selbst gern sieht: Kunst als Applausinstrument missbraucht!

Doch ich gehe davon aus, dass so etwas die Vorstellungen unserer Schülerinnen nicht erfüllt. Das wäre ihnen sicher zu wenig im Verhältnis zu ihren Idealen. Viel mehr wollen sie mit dem Mittel der Kunst der Gesellschaft so etwas wie einen Spiegel vorhalten, in welchem eine Art von Entlarvung von Widersprüchlichkeiten stattfinden soll. Demnach geht es letztlich darum, Werke der Kunst von gesellschaftspolitischer Relevanz zu zeigen. Achtung: geht es dabei eventuell um einen Zweck?

Jetzt ist äußerste Vorsicht geboten in der Vorgehensweise, wie es ein Rückblick in die 1960er und frühen 1970er Jahre zeigt. In diesen Jahren war das Bewusstsein gerade junger Menschen geprägt von den Auswirkungen des brutalen Vietnam Krieges und einer sich hemmungslos ausbreitenden kapitalistischen Weltsicht. Besonders die Universitäten entwickelten sich zu Brutstätten des heftigen Aufbegehrens. Jetzt wurden auf einmal auch die Künstler befragt, in wie weit ihr Kunstschaffen Verantwortung mit übernehmen könne für die Gestaltung der existenziellen Verhältnisse, welche Menschen in einer Gesellschaft miteinander eingehen.

Aus diesen anfänglichen Fragen wurden schnell knallharte Forderungen. Man trachtete dem Kunstschaffen das einzuverleiben, was man auf einmal ganz allgemein allen Aktivitäten der Menschen verordnete: verantwortliches Handeln zu zeigen durch die Hervorkehrung gesellschaftspolitischer Relevanz im eigenen Tun und selbstverständlich auch in den Werken der Kunst. Diese solle endlich davon Abstand nehmen, eine Dienerin des schönen Scheins zu sein, des schönen Lebens, vor allem der Reichen, die sich dies leisten könnten und alles auf dem Rücken einer ausgebeuteten Arbeiterschaft. Kunst habe nun die harten Fakten einer von Gewinnsucht ergriffenen und fehlgeleiteten Gesellschaft zu erkennen, dies zum Thema ihrer Darstellungen zu machen und dadurch nicht mehr abseits zu stehen, sondern direkt am notwendigen Prozess der Aufklärung über gesellschaftliche Fehlentwicklungen mit zu arbeiten. Man könne zum Beispiel den Vietnam Krieg in der Kunst nicht weiter ignorieren; eine von Fließbändern wie paralysiert erscheinende Arbeiterschaft brauche neue Lebensnahrung aus einem befreiten Lebensgefühl; die Güter, an welchen alle teilhaben, bedürften eine gerechteren Verteilung usw. und sofort. Auf dies alles und noch viel mehr habe eine engagierte Kunst ihr Augenmerk zu richten, wenn sie endlich einmal verantwortlich, das hieße den wahren Lebensverhältnisse gemäß handeln wolle.

Die zu Tage tretende Tendenz der damaligen Wortführer zu geschlossenem Denken, in geschlossenen Systemen versehen mit autoritärer Praxis im Namen eines einheitlichen Kollektivs war in Wirklichkeit ein Freiheitsentzug schlimmster Art. Für die Kunst konnte so gar keine Luft bleiben. Die proklamierten sogenannten Wirklichkeiten, welche man ganz einseitig irgendwelchen empirischen Daten entnahm, fielen dann logischerweise auch nach wenigen Jahren in sich zusammen.

Derartigen Gespinsten wendet sich die Kunst eben nie zu. Sie ist vielmehr dazu geeignet, den lebendigen Wandel des Wirklichen durch Anschauung zu erfassen und ihren Blick in die Tiefe der Daseinsgründe des Lebens zu richten. Nur auf diese Weise ergreift sie ihre Grundbedeutsamkeit. Sie öffnet dem Menschen nicht allein die Fülle, sondern eben auch die Tiefe der Welt, und dies allerdings nur auf dem Wege der Verinnerlichung. Sie erfüllt immer freiheitliches Wollen durch Ausweitung und Sprengung des Verständnisses der Wirklichkeit, die gerade vorherrscht. Die Kunst weißt ja geradezu über den herrschenden Wirklichkeitsbegriff hinaus und in diesem Bemühen ist sie nicht nur unverfügbar für jedes an sie gerichtete Zweckdenken, sonder auch unwiderlegbar, denn sie lässt aus allem Gegebenen das ewig Menschliche, das ewig Weltliche und das ewig Schöpferische hervortreten.

Untrennbar von der visionären Tiefe der Kunstkraft in uns Menschen ist ebenfalls der Hinweis der Kunst auf Vollkommenheit. Durch ihre Formkraft erfahren wir allein durch sie, was ein „Ganzes“ ist, in unsere Alltagssprache übersetzt, was Ganzheitlichkeit bedeutet. Allein durch eine künstlerische Bildung unseres Gefühlslebens können wir es erleben und allmählich auch verstehen lernen, was ein Ganzes im Sinne von etwas Einzigartigem und Vollkommenen ist. So wie es jeder Mensch ist.

Es darf nun ein Missverständnis nicht entstehen, nämlich die Ansicht, die Kunst habe mit der Wirklichkeit und dem Verhältnis zur Wirklichkeit gar nichts zu tun. So ist es keineswegs, denn es ist die materielle Wirklichkeit, aus der die Kunst ihre Anlässe und Motive schöpft. Beides soll immer entstehen gerade aus der Neigung zur Welt. Die Erscheinungsweise eines Werkes ist zudem an die Wirklichkeit des Materiellen gebunden. Gleichfalls durch die Bindung an die Materie ist die höchste Schöpfung jedoch auch der Vergänglichkeit preis gegeben. Doch ihr geistiger Gehalt lebt fort und die Kraft und Bestimmtheit, mit der er auftritt, verbleiben grenzenlos immateriell im Inneren des seelischen Erlebens der Menschen erhalten.

Auf gesellschaftliche Krisen, die es immer gab, beispielsweise die Zeit der Pest, die Kriege, Armut und der weltweite Sklavenhandel, der Mord am Jüdischen Volk, reagierte die Kunst immer in der ihr eigenen Art. Deren Bedeutung bezieht die Kunst aus dem ursprünglichen Verständnis des griechischen Wortes „Krinein“. Was so viel heißt wie Scheiden, Wenden, im Sinne von Wandel, das etwas Neues durch Tod und Verderben hindurch seinen Weg eben auch nimmt. So ist die Krise nicht das totale Ende, sondern eine Metamorphose, ein Übergang wo Altes abstirbt und Neues beginnen will. Hierfür entwickelte sich in der Kunst sogar eine eigene Gattung, die der „Apokalypse“. Darin werden immer Untergang, Tod und Verderben gezeigt, jedoch stets mit einem Licht der Zukunft versehen, einer Hoffnung, einer unendlichen Liebe, die eben auch in der Schöpfung enthalten ist und immer auch erhalten bleibt.

Die Theaterliteratur entwickelte ebenfalls eine eigene Form, welche über die Darstellung des Tragischen hinausweist in eine neue Offenheit: die Tragikomödie, um von Schuld, Not und Tod den Kopf wieder frei zu bekommen, durch ein groteskes meist rational nicht zu deutendes heiteres Ende des Stückes.

Jetzt komme ich an den Anfang zurück, wo ich erklärte, wie die Kunst nie nur das Gegebene, Faktische zur Darstellung bringt, sondern darüber hinaus immer das Mögliche, das Andere, zeigt. Täte sie das nicht, wäre sie nur ein nachschaffendes Tun und nicht eine schöpferische neue Form. Dann wäre sie keine Kunst, sondern krass gesagt nur eine Kopie dessen, was es schon gibt. Insofern ist Kunstbetrachtung immer auch ein Einüben in das Verstehen des Anderen, und ein natürliches Einüben in das Verstehen der Anderheit des Anderen. Und Fremdverstehen und Anderes Verstehen führt natürlich auch wieder zu besserem Selbstverstehen. Das Verständnis des Anderen ist der beste Schutz vor Aggression gegen andere Menschen. Ein hochaktuelles Thema, an dem sich Widersprüche in der Gesellschaft erkennen lassen. Wenn diese Möglichkeit der Kunst in den Schulen nicht mehr gelehrt wird, in dem der Kunstunterricht weitgehend gestrichen oder verändert wird, verzichtet man auf die Gestaltungskraft der Kunst für das Leben und friedliche Auskommen mit anderen Menschen. Dasselbe gilt auch übrigens für den Sport, wenn ihm der Charakter des Spieles entzogen wird und stattdessen nur noch die messbare Leistung wichtig ist.

Doch kehren wir zurück zu der Kunstgattung der Apokalypse und dem ihr innewohnenden Licht der Zukunft. Sie zeigt uns damit nicht eine Träumerei oder gar Illusion einer schönen und vielleicht besseren Welt. Im Gegenteil, sie bezieht ganz konkret neben dem bösen Untergangszenario eine zweite Wirklichkeit mit ein, die man nicht unterschlagen darf. Diese ist wie folgt zu erklären:

Die Existenz der gesamten Schöpfung, unsere Welt und jeder Mensch beruht auf dem Gesetz des bewegtem Gleichgewichtes. Bewegung ist das Lebensprinzip. Der Ursprung von Ewigkeit und Unendlichkeit ist der Augenblick, der Augenblickpunkt des Gleichgewichtes. Da dies naturgemäß so ist, existiert logischerweise gleichzeitig mit Tod und Verderben auch das gleiche Potential von Hoffnung, Liebe und Glaube. Allerdings müssen wir uns zur Erkenntnis dieser drei selbst erheben und dazu enorme schöpferische Kräfte entfalten. Es bedarf es zu aller erst des Willens zur Erkenntnis und eine Erziehung. Nur das eigene Bemühen eröffnet uns die notwendigen Erkenntniskräfte von Hoffnung, Glaube und Liebe und damit eine heilsame Wendung zum Besseren.

Um Tod und Verderben, ja um die Entstehung des Bösen, brauchen wir uns nicht zu bemühen, denn sie bieten sich immer von selbst an, sie befallen uns förmlich, nutzen unsere Bequemlichkeit und richten in uns die aller schlimmsten Grausamkeiten an. Mit einer Devise des Journalismus kann diese Tendenz leicht erklärt werden. Sie heißt: Jede negative Nachricht ist eine gute Nachricht, denn sie steigert den Verkauf der Zeitungsexemplare.

Niemand soll sich hierbei auf die ordnende Hilfe des Staates und seine Organe verlassen, welche einem schrecklichen Geschehen Einhalt gebieten könnten. Denn ein Staat kann aus sich selbst heraus keine Moral entwickeln. Allenfalls kann er Regelungen vor Gesetzen erlassen, die naturgemäß nicht dem Inneren des Menschen, sondern seinem Verstand entspringen. Hierbei handelt es sich um äußere Handlungsanweisungen und nie um eine Herzenssache der Menschen.

So möchte ich zum Schluss dem löblichen Vorhaben von Johanna und Anna wünschen, dass sie für ihre Ausstellung Werke von Künstlern erhalten, welche nicht nur die Einseitigkeiten unseres Alltags widerspiegeln, sondern ein Mehr enthalten, etwas was darüber hinausweist und die andere auch konkret existierende Wirklichkeit einer befriedeten Lebenswelt offenbart.

Herzlichst, 
Ihre © Sibylle Laubscher