• Seinsgebieten der Kunst : Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft

Seinsgebieten der Kunst : Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft

(Bild: Sibylle Laubscher, inspiriert von der Beschreibung der Eisenfabrik in Charles Dickens' "The Old Curiosity Shop")

Nach Abschluss meiner Beiträge zur Frage, ob Künstler sein lehrbar und ein Beruf ist, konnte ich mich über das Echo der Leserschaft freuen. Ganz besondere Anerkennung fanden meine Redebeiträge in einer Diskussion von „Salz + Kunst“ im Barakuba, Basel, zum Thema „Kunst kommt von Können“, welche ich den grundlegenden Texten meiner Newsletter entnahm. Vor allem die Klarstellungen von Kunst-Künstler-Kunstwerk fanden größte Aufmerksamkeit, sodass dem eine Anfrage folgte, meine mündlichen Ausführungen veröffentlichen zu dürfen (Kunst kommt NICHT von Können). Ganz besonders befriedigend für meine schriftliche Weiterarbeit war das Erlebnis, dass an Kunst interessierte Menschen größtes Interesse daran haben, stabile Grundlagen für den Umgang mit der Welt der Künste zu erhalten. Und genau darum ging und geht es mir immer.

Bevor ich meinen Vorschlag für eine neue Themenfolge mache, möchte ich Ihnen noch ein Zitat von Leonardo da Vinci (1452 – 1519) aus zwei Gründen übermitteln. Einerseits, weil ich es erst jetzt zufällig fand und es sehr gut zu dem Zitat von Renoir des letzten Newsletters passt und andererseits, weil speziell Leonardo im weiteren Verlauf nun eine zentrale Rolle spielen wird.

„Der junge Maler muss zuerst die Perspektive lernen; dann die Masse aller Dinge; dann muss er bei einem guten Meister in die Lehre gehen, um sich an gute Körperformen zu gewöhnen; dann bei der Natur, um sich die Gründe dessen, was er gelernt hat, einzuprägen; dann eine Zeitlang die Werke aus der Hand verschiedener Meister betrachten; dann sich daran gewöhnen, alles in die Tat umzusetzen und selbst die Kunst auszuüben… Der Geist des Malers muss ununterbrochen so vielen Gedankengängen nachgehen, wie die Formen des sichtbaren Lebens sind, die vor seinen Augen erscheinen und diese muss er festhalten und sie sich aufzeichnen und Regeln aus ihnen gewinnen, wobei er den Ort und die Umstände, Licht und Schatten zu berücksichtigen hat.“

Man könnte diese Sätze leichtfertig mit der Bemerkung abtun: wie soll und kann uns ein Leonardo heute noch zur Gegenwartskunst etwas sagen? Er gehört der Vergangenheit an.

Der französischer Kunsthistoriker André Chastel (1912-1990), wohl der bedeutendste Forscher des Werkes von Leonardo, aus dessen Buch „Leonardo, Gemälde und Schriften“, ich meine Zitate für diesen Beitrag übernahm und vor allem der Philosoph Jürgen Mittelstrass (geb. 1936) in seinem Buch: „Leonardo-Welt – oder die Welt die wir uns schufen“, sind da ganz anderer Meinung. Mittelstrass ist einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, Direktor des Konstanzer Wissenschaftsforums und ehemaliger Präsident der Academia Europaea, London, schreibt: „Wissenschaft und Technik machen die Welt zu einem Artefakt (ein vom Menschen hergestellter Gegenstand), zu einer Leonardo-Welt, benannt nach dem Renaissanceengenieur, Wissenschaftler und Künstler Leonardo da Vinci und erfasst auch die Natur und den Menschen.“ Der Homo faber! Für Mittelstrass ist das Werk Leonardos für die Gegenwart hoch aktuell. Ich werde darauf zurückommen.

Doch vorher soll Ihnen mein Themenvorschlag für die neue Folge von Newslettern vorgestellt werden. Wie betont, möchte ich mich mit den Grundlinien des Kunstschaffens beschäftigen. Dazu soll ein Wesenszug der Kunst behandelt werden, welcher ihre Seins- und Existenzweise in Bezug setzt zu den übrigen Seinsgebieten der Menschen, vor allem dem logischen, worunter besonders Natur und Wissenschaften zu verstehen sind; dann zum gesellschaftlichen, worunter die Quellen der Kunst fallen; sodann ethischen, metaphysischen und religiösen; die Beziehung der Kunst zur Anthropologie (Wissenschaft vom Menschen und vor allem seiner biologischen Entwicklung), weil die Kunst tief im personalen Sein des Menschen verankert ist, und darüber hinaus das Gebiet von Kunst und Technik.

Es könnten noch weitere Verhältnisse benannt werden, die sich aus dem Kunstschaffen ergeben, beziehungsweise der hier vorgestellte Rahmen ist schon sehr umfangreich und möglicherweise genügend. Ohnehin erhebe ich nicht den Anspruch auf irgendeine Art von Vollständigkeit.

Gegenüber anderen Seinsgebieten, etwa von Mensch und Natur, hat die Kunst eben eine besondere Existenzweise. Diese darzulegen, was ich versuche, ist die Aufgabe einer Ontologie (griechisch) der Kunst, es ist die Lehre vom Sein und der Struktur von Realität. Das ist genau jenes Gebiet, in welchem ich mich mit Ihnen in den nächsten Monaten bewegen werde.

Beginnen möchte ich mit dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Die fortschreitende Verwissenschaftlichung aller unserer Lebensvollzüge heute legt diese Thematik sogar nahe.

Da ich mich in den vorausgegangenen Newslettern schon darum bemüht habe, dass Verständnis von Kunst herauszuarbeiten, muss ich in ähnlicher Weise zunächst mindestens in Ansätzen aufzeigen, was unter Wissenschaft zu verstehen ist. Hierbei gehe ich ausschließlich von der europäischen Entwicklung aus.

Diejenigen, welche damit begannen, Wissen über die Welt und den Menschen zu gewinnen, waren die Griechen, ca. um 500 vor Christus. Aus diesem Erkenntnisbemühen entstand unter anderem die Philosophie mit Fragen und Antworten, die uns bis heute beschäftigen. Den Weg zu Erkenntnisgewinnen legten sie in drei Stufen fest:

  • Dianoia, das ist die Lehre vom Denken als Wahrnehmung durch die Sinne. Wissen durch die Sinne zu erhalten (Aristoteles, Metaphysik).
  • Episteme: damit ist Erkenntnis gemeint, auch aus der Welt der Ideen und bis heute die Grundlage von Wissenschaft (lateinisch: scientia). Daraus bildet sich das wissenschaftliche Urteil.
  • Doxa: das ist die Meinung, auch der Ruhm, immer mit der Gefahr des Irrtums verbunden (die Schatten des Seins aus dem „Höhlengleichnis“ des Plato).

Gültiges Wissen erlangte man nur durch diesen Dreierweg, bei dem vor allem der erste Schritt, Dianoia, garantiert, dass der Mensch als Subjekt nicht vom Wissensgewinn ausgeschlossen wird. Unser modernes wissenschaftliches Denken übergeht Dianoia und ergreift nur Episteme, als der Inbegriff dessen, was man weiß, der durch Schrift und Lehre übermittelte Wissensschatz.

Im Mittelalter wurden diese Grundlagen zum Ausbau des vor allem theologischen Lehrgebäudes der Scholastik benutzt, wobei einerseits die Forschung den kirchlichen Ansprüchen zu dienen hatte, jedoch andererseits durch die „Artes liberales“, lateinisch, „Die Freien Künste“, keine Trennung von Kunst und Wissenschaft vorsah, sondern im Gegenteil den Anschluss an die griechische Tradition einer allumfassenden Bildung verfolgte. Vor allem in der „Artisten Fakultät“ (Institutiones) wurde sie betrieben.

Während der Renaissance änderte sich dieses Verhalten allmählich. Man übertrug das naturwissenschaftlich-mathematische Denken immer mehr auch auf die Bereiche des organischen und seelischen Lebens. Die reine Wahrnehmung, Wissen durch die Sinne zu erhalten, als Grundvoraussetzung wurde immer mehr durch die „Beobachtung“ ersetzt. Man baute die Natur im Experiment nach und beobachtete Ursache und Wirkung, also ein kausalanalytischer Zusammenhang von Phänomenen des Lebendigen. Ansätze dieser neuen Stellung des nach Wissen strebenden Menschen kann man einem Ausspruch Leonardos entnehmen. Obwohl Leonardo in keiner Weise Kunst und Wissenschaft trennte, wie seine Biographie eindeutig zeigt, steht er am Übergang zu einem neuen Weltbild, in dem er abschließendem Wissen den Versuch, die nachgebauten Naturphänomene, voraus setzte.

„Mir scheint, es sei jegliches Wissen eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung, der Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird und nicht im wahrgenommenen Versuch abschließt.“

Prinzipiell war für Leonardo das Kunstschaffen eine wissenschaftliche Vorgehensweise, mit deren Mittel man vor allem Erkenntnisse über die Natur gewinnen konnte. Er sagt:

„Nach den wissenschaftlichen und wahren Prinzipien der Malerei wird zuerst festgelegt, was ein Schattenkörper ist und was ein ursprünglicher und was ein abgeleiteter Schatten und was das Licht, das heißt Dunkelheit und Helligkeit ist, und Farbe, Körper, Gestalt, Lage, Ferne, Nähe, Bewegung und Ruhe; und dies alles ist nur mit dem Geist ohne die manuelle Tätigkeit zu verstehen. Und darin besteht die Wissenschaft der Malerei, die im betrachtenden Geist wohnt; ihm entspringt dann die Ausführung, die weitaus würdiger ist als die vorher genannte Wissenschaft oder Betrachtung.

Wenn Du sagst, die nicht mechanischen Wissenschaften sind die Geistigen, dann sage ich dir, dass die Malerei geistig ist…

Und wie es die Geometrie und die Arithmetik es mit ihren Quadrat- und Kubikwurzeln macht, reichen diese Beiden Wissenschaften nicht weiter als bis zur Kenntnis der kontinuierlichen und diskontinuierlichen Quantität. Um Qualität kümmern sie sich nicht. Die aber ist die Schönheit der Werke der Natur und die Zierde der Welt.“

In diesen Äußerungen Leonardos findet sich schon der Keim einer Kritik an der einsetzenden Entwicklungen der Wissenschaften zu einer rein mechanischen oder einer kausalanalystischen (das Ursache-Wirkungsprinzip) Herangehensweise, wie sie sich bis in die Neuzeit, dann vor allem durch Isaac Newton (1643-1727) durchsetzte.

Skizzen zur Aeronautik, Leonardo da Vinci
Paris, Bibliothèque Nationale


Bei seinem jahrzehntelang andauernden Bemühungen um menschliche Flugversuche hat Leonardo viele Möglichkeiten durchdacht und immer neue Einfälle erprobt.

„Mit einem Ding übt man gegen die Luft so viel Kraft aus als die Luft gegen dieses Ding. Du siehst, wie die Flügel, die gegen die Luft geschlagen werden, bewirken, dass der schwere Adler sich in der höchsten dünnen Luft halten kann… Aus diesen augenfälligen Gründen kannst du ersehen, dass der Mensch die Luft wird unterjochen und sich über sie erheben können, wenn er gegen die Widerstand leistende Luft mit seinem großen, von ihm gefertigten Flügeln eine Kraft ausübt und diesen Widerstand überwindet“

Bewahrer des griechischen Weges, wie beispielsweise G. W. Leibniz (1646-1716), J. G. Herder (1744-1803) und vor allem J. W. von Goethe (1749-1832) und daran anschließend J. G. Fichte (1762-1814) mit seiner bedeutenden Wissenschaftslehre, konnten sich nicht durchsetzten. Der Siegeszug der Technik, beginnend im 19. Jahrhundert, begründete sich auf das Kausalitätsprinzip eines Positivismus, welcher nur noch die objektiv nachweisbare Beweisführung mit einem richtigen definitiven Ergebniss als wissenschaftlich gelten ließ. Das Prinzip „Richtig“ und „Falsch“ beherrschte alles, beziehungsweise ein Prinzip, welches in der Kunst nicht existiert: es gibt keine richtige und es gibt keine falsche Kunst, es gibt nur Kunst.

Der forschende und nach Wissen strebende Mensch als Subjekt blieb zunehmend unberücksichtigt, obwohl die erlebende Seele des Menschen nicht auszuschließen war. Erst mit der Quantenphysik im 20. Jahrhundert begann ein neues Kapitel der Wissenschaftstheorie, vor allem durch Werner Heisenberg (1901-1976), welcher prophetisch für die Zukunft darauf hinwies, „das wir immer wieder mehr Kinder Goethes sein werden“.

Goethe, welcher seine naturwissenschaftliche Forschung gleichsam im Dauerstreit gegen Isaac Newton verteidigte, formulierte ganz dem antiken griechischen Erkenntnisweg des Dreierschritts verbunden folgendes:

„Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innere, dieser das Äussere fehlt, so müssen wir die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit erwarten. Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern, so müsste man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahnung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum Ergreifen des Augenblicks.“  

(Goethe: Betrachtungen über Farbenlehre und Farbenbehandlung der Alten)

Hier bleibt der Mensch Mittelpunkt des Geschehens als Beweger und Bewegter allen Forschens. Die Distanz zur gegenständlichen Welt, welche er benötigt, um ihr forschend begegnen zu können, kann ihm nur durch die künstlerischer Deutungsweise gelingen, da die Kunst nichts von der Natur hat. Die Kunst ist eben künstlich und nicht natürlich. Sie ist reiner Schein! Und ganz genau an diesem Wesenszug der Kunst wurde sie immer angegriffen und verletzt durch die leichtfertige Parole: der Kunst fehle der Realitätssinn! Das dieses sogenannte Fehlen jedoch ihre Stärke ist, denn Realität kann nur immer in Bezug zum Menschen als Subjekt entstehen, wird übersehen. Und genau an dieser Stelle können wir über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft folgendes festhalten:
Das Herauswachsen des ÜBERINDIVIDUELLEN aus dem rein subjektiv Individuellem wird bewirkt durch die künstlerische Form, welche die Unabhängigkeit von aller vorgefundenen „Realität“ in sich schließt. "Kunst wird zum Symbol im ursprünglichen Sinne des Wortes, indem sie Idealität und Realität zusammenbringt zu einer Einheit, in der beide ineinander scheinen... Transformation durch Struckturerkenntnis und Phantasie-Impuls. Dadurch übertrifft Kunst die Wirklichkeit entschieden." (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775-1854). Übertreffen der Wirklichkeit entspricht dem besonders in der Renaissance intensivierten aristotelischen Gedanken, das Kunst Natur vervollkommnet und präzisiert: ars imitatur naturam et perfecit eam. Hier wird der Symbolcharakter der Kunst in seiner Vieldeutigkeit erkennbar und daraus folgend ihre Begriffslosigkeit, mit der sie sich im Gegensatz zur modernen Wissenschaft setzt, die stets auf klare Begrifflichkeit besteht. Es ist die stimmungshafte Grundart der Kunst, welche ihr die strenge Form rationalen Beweises, der Aufzählung von Begründungen, die Auseinandersetzung mit Gegnern unmöglich macht, ja gerade zu verbietet. Deshalb jedoch braucht die Kunst keineswegs nur rein subjektiv gefühlsvoll zu sein; denn der reichliche gedankliche Gehalt und vor allem die Sinnsuche und Sinnstiftung werden von ihr nicht ausgeschlossen, sondern sie lässt lediglich die Alleinherrschaft des Begrifflichen absolut nicht zu. Deshalb entsteht Kunst nie per Definition, ein Unding beliebt vor allem in der Gegenwartskunst. Von entscheidender Wichtigkeit ist der sinnliche Faktor in der Kunst, etwa von Farben, Form, Bewegung, Licht und Arten des Materials. Diese Faktoren setzen die Stimmungshafte Grundart der Kunst und ihre Nähe zum Urschöpferischen (Heinrich Wölfflin 1864-1945). Die Kunst erscheint dem Betrachter sinnbildlich geformt, etwas völlig anderes als es ein Werk der Philosophie oder der Wissenschaft bietet.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Kunst im Gegensatz zu wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen stets mehr aussagt, als sie begrifflich ausspricht. Und zwar zeigt sie dieses Mehr „leibseelisch“ dem Betrachter, womit gemeint ist, dass alles Materiale an ihr geprägt und durchlebt wird von der „Seele“ des Werkes. Die Seele ist dem Werk eingeschrieben. Sie wird nicht diskussionsmäßig entwickelt, nicht begrifflich, nicht rhetorisch behauptet, sondern stellt sich in den Sinn des Werkes. So gehört zum wahren Kunstwerk, dass in ihm ein Sinn eingegeben ist.  Ihr Hauptgrund, welcher in außerkünstlerischen Bereichen, vor allem in den Wissenschaften, keine Entsprechung hat. Denn über Sinn kann man einen Streit von Deutungen führen, über wissenschaftliche Ergebnisse, welche stets Beweise sind, kann man nicht streiten.

 

Antoine Laurent de Lavoisier und seine Frau Marie von Jacques-Louis David (1788)
(Quelle : Wikipedia)

© Sibylle Laubscher