• Eine Stellungsnahme zum Thema „Kunst neu denken“

Eine Stellungsnahme zum Thema „Kunst neu denken“

Wir werden informiert, dass die Herausgeber von AVENUE,  Corinna Virchow und Mario Kaiser, ein Vorhaben planen unter dem Titel „Kunst neu denken“. Sie denken daran, dem zeitlosen Werk“, „bye bye“ zu sagen und über eine „andere Ästhetik“ diskutieren.

Kunst kann man nicht neu denken, weil Kunst das mittlere Glied zwischen Religion und Wissenschaft ist. Andere Gebiete haben wir nicht. Das sind die Gebiete, innerhalb derer der Mensch handelt. Sie sind nicht hintergehbar – von Natur aus gegeben. Sie treten zusammen mit dem Menschen auf und zwar in der Weise, dass er/sie innerhalb

  • des Religiösen seine Glaubenskräfte erlebt und ausübt,
  • der Kunst seine Kraft zu Form bildet und
  • in der Wissenschaft seiner Neugierde folgt, um Wissen über die Welt, in der er lebt, zu gewinnen.

„Durch Kunst errichten die Menschen das Reich der Form in der Mitte zwischen dem Reich der Sinne und dem Reich der Vernunft. Dadurch setzt der Mensch Ordnung ins Chaos.“ (Martin Rabe, geb. 1942)

Somit kann man die Kunst, genauer gesagt, die Kunstkraft des Menschen, nicht erneuern. Sie ist gegeben.

Das sogenannte Zeitlose ist eine beliebte Redewendung, die keinem Sinn folgt. Kein Künstler trat je auf mit dem Anspruch, für die Unendlichkeit zu schaffen.

Erstens geht das vom Material her nicht. Das Künstlermaterial ist an Endlichkeit gebunden, sowie alles Leben auf der Erde. Insofern ist es durch Endlichkeit begrenzt.

Zweitens handelt es sich hier um eine alte Behauptung, die vor allen Dingen polemisch geäußert wird und seinen Ursprung hat im falschen Verständnis einer wichtigen ästhetischen Kategorie. Diese Kategorie erfasst die Tatsache der „internen Unendlichkeit eines Kunstwerks“. Also innerhalb des Kunstwerks und nicht außerhalb seiner selbst gibt es das Phänomen der Unendlichkeit. Dieses entspricht dem Wesen des Kunstwerks, welches ein offenes Zeichensystem ist und seine Aussage erhält durch das Verhältnis von Werk und Rezipient. Das subjektive Erleben des jeweiligen Rezipienten ist jeweils im Augenblick einmalig und nicht wiederholbar. Es ist ein unendliches Erleben für unendlich viele Menschen. Die Quelle von Unendlichkeit ist die Offenheit des Werkes über Jahrhunderte hinweg und für alle Rezipienten. Sie ist schlichtweg unbegrenzt. Das ist das Wesen des Kunstwerkes und entspringt nicht der Absicht eines Künstlers. Dadurch bleibt es über Jahrhunderte hinweg immer neu interpretierbar.

Eine Komposition beispielsweise ist immer die Niederschrift einer musikalischen Idee, welche über Jahrhunderte hinweg immer neu interpretierbar bleibt. Bilder sind auch die Niederschrift einer künstlerischen Idee und deshalb ist es dem Wesen der Idee entsprechend immer offen für neues Erleben und Verstehen.

Hier kann gleichzeitig auf das Missverständnis des sogenannten „Genie“-Begriffes hingewiesen werden. Kein Künstler war der Überzeugung, ein Genie zu sein. Selbst Leonardo nicht.

Wir könnten uns überlegen, „kann man neu denken, was ein Kunstwerk ist?“

Das ist ebenfalls nicht möglich, weil es per Definition nicht erklärbar ist, was ein Kunstwerk ist. Es beruht auf das Erleben des einzelnen Subjekts in Freiheit, wie vorher erklärt.

„Große Kunst verschafft uns Augen für etwas, was wir vorher nicht sehen konnten. Kleine Kunst macht nur Formwandel von Bestehendem“ sagte der Philosoph Martin Heidegger (1889 –1976)

Wir können eine Debatte über die Existenz- und Seinsweise der Kunst führen und uns dadurch dem Thema, was ein Kunstwerk ist, nähern. Damit ist gemeint, WIE die Kunst auftritt. Was ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk macht, ist Sache des Rezipienten, und zwar ganz subjektiv. Wenn Menschen sich für ein Kunstwerk begeistern und das über eine längere Zeit, wie zum Beispiel für Leonardo da Vincis „Mona Lisa“(gemalt ca. 1503-06), dann können wir uns einigen, dass es sich wahrscheinlich um große Kunst handelt.

Nun zur Ästhetik:

In der Ästhetik geht es um das elementare Spannungsverhältnis von Anschaulichkeit und Begrifflichkeit, von Bild und Reflexion (Betrachter).

Wir könnten mit den ästhetischen Kategorien von Immanuel Kant (1724 -1804) aus „Kritik der Urteilskraft“ (Reclam Nr. 1026) eine Grundlage übernehmen, auf der es gut möglich ist, die Debatte zu führen. Leider werden seine Kategorien selten noch gelehrt, da sie irrtümlicherweise als veraltet gelten.

Das Neue in der Ästhetik wäre, dass man nachweist, die bestehenden Ästhetiken ca. der letzten 2500 Jahre verstanden und angewendet zu haben (ca. 76 Texte). Angefangen bei Platos „Symposion“ (ca. 450 vor Christus), dem Besten und endend bei dem Dümmsten, wobei ich an Max Bense (1910 –1990), Stuttgart, denke. Um nur eines der größten Irrtümer seit den 1960er Jahren im Bereich der modernen Ästhetik zu nennen: seine sogenannte „Informationstheoretische Ästhetik“ (1965) der eine ganze Generation von Studierenden verfiel, obwohl sie nichts verstanden hatten von dem, worüber er lehrte, und deshalb erst 20 Jahre später als eine ästhetische Sackgasse aufgedeckt wurde. Dennoch befindet sich aktuell sein wirres Gedankengut in den Köpfen vieler Ästhetiker.

Ebenfalls gewann es Einfluss unter Designern und Künstlern, vor allem aber unter Kunstlehrer. Auffallend bis heute ist hier das Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe, und seine Tendenz, Kunstwerke algorithmisch zu bewerten auf der Grundlage von Darstellungen riesiger Datenmengen (fälschlicherweise „Information“ genannt) und „Generations Design“ mit Programmen auf einem Computer von komplexen Parametereinstellungen. Es handelt sich dabei um Zeichenprozesse (Semiotik), in denen Zeichen konstruiert und produziert in Umlauf gebracht und dann auch rezipiert werden. Allerdings bleibt bei dieser Vorgehensweise jedes subjektive Urteil eines bestimmten Beobachters vollkommen unberücksichtigt.

Benses Ästhetik war ein kurzlebiger, Versuch, eine mathematisch strenge objektive informationstheoretische Ästhetik ohne subjektive Elemente vorzulegen. Eher Mathematik, um Kunstwerke algorithmisch zu bewerten. Eine Ästhetik des sich nicht verändernden Objektes.

Zeitgemäß wäre heute genau das Gegenteil: die Idee der „Komplementarität“, mit der Größen oder Gegenstände bezeichnet werden, die zwar zusammen gehören, sich aber dennoch gegenseitig ausschließen; beispielsweise ein Magnet.

In diesem Sinne verstanden bedeutet, dass jedes Bild ein komplementäres Gegenstück benötigt, das ist jeweils der Rezipient, welcher mit gleicher Berechtigung wie das Kunstwerk auftritt. Diese Beziehung ist nötig, denn nicht wahrgenommene Kunst existiert nicht. Unter diesem Gesichtspunkt ergeben Zahlen, Algorithmen keinen Sinn und statt zu zählen, würde das Erzählen bedeutsam – der Bildraum als Erzählraum. Der Rezipient ist kein Mikrophon, in welches das Werk von sich aus hinein spricht.

Mir geht es darum, zum lebendigen Prozess der „Aisthesis“ zurück zu kehren. „Aisthesis“ hat mit Kunst überhaupt nichts zu tun. Sie beschreibt eine Methode, welche ca. 500 vor Christus entwickelt wurde und das neue Verhältnis von Welt und Mensch erfasst. Von dort aus den Versuch einer „Neuen Ästhetik“ zu betreiben, welche das Bewusstsein auf den „Werdeprozess“ dessen richtet, was Gestalt annehmen will. Auf dasjenige, was während der Formbildung stattfindet, seine Aufmerksamkeit zu richten, ist die eigentliche Aufgabe einer Ästhetik des Lebendigen. Nicht eine Ästhetik des „Gewordenen“, sondern eine Ästhetik des „Werdens“. Nicht eine Ästhetik, welche der Kunst die Gesetze diktiert, sondern eine Kunst, welche den ästhetischen Prozess bestimmt. Eine solche Ästhetik wurde bis heute nicht verfasst. Es gibt einen Vorschlag hierzu von dem Künstler Martin Rabe (geb. 1942) aus dem Jahre 2000.

„Eine Ästhetik, die davon ausgeht, dass das Schöne ein sinnliches Wirken ist (Bewegung) welches so erscheint, als wäre es die Idee, die gibt es noch nicht. Aber eine derartige Ästhetik muss heute entwickelt werden. Das wäre eine lohnende Aufgabe.“

Seit Jahren weise ich in meinen Newslettern darauf hin, dass eine Debatte schwer zu führen ist, weil zu viel Unkenntnis in der Sache herrscht. Um Kunsterlebnisse zu haben, muss man auch von Kunst wissen, denn nur Bekanntes kann sich in Beziehung setzen. Kant: „Kunst ist subjektiv, aber wir setzten einen Gemeinsinn voraus, dass sie auch kommunikabel sei.“ Beispielsweise gehört die „Tomatendose“ von Andy Warhol (1928 –1987) zu den Konserven, die wir täglich sehen. Sie ist kein Kunstprodukt, da sie dem alltäglich zweckhaften und zum Gebrach bestimmten verhaftet bleibt. Sie wurde von Warhol nicht zu einem Kunstobjekt umgesetzt. Dadurch, dass man ihr die Aura eines Museums verleiht, wird sie nicht zum Gegenstand der Kunst. Die Umsetzung ist wichtig (das WIE). Das Werk von Warhol repräsentiert nur ihre Zweckhaftigkeit. Doch beabsichtigter Zweck gibt es in der Kunst nicht. Der einzige Zweck in der Kunst ist ihre Zwecklosigkeit.

Jeder Mensch hat Sehnsucht nach Umsetzung zum Möglichen, was über das Alltägliche hinaus führt. Kunst weitet unsere Welt und zeigt neue Welten, in denen freies Denken wieder möglich ist, was über das Alltägliche hinausführt. Kunst weitet die Welt für uns Menschen und zeigt uns neue Freiheiten, die wir in ihr finden können.

Christoph Brumme, der 59-jährige Schriftsteller aus Ostdeutschland zeichnet jede Woche auf, wie er den Krieg in seiner Wahlheimat Ukraine erlebt. Er lebt in Poltawa, in der Mitte des Landes. NZZ am Sonntag, 3. April 2022

 „Mittwoch, 30. März 2022

Vorfreude. In einigen Tagen soll die Galerie «Jump» eine Ausstellung Poltawaer Künstler eröffnet werden. Kunst im Krieg, muss das sein? Darf man sich an Kunstwerken erfreuen, während zwei Autostunden entfernt Hunderttausende Menschen in Todesangst leben?

Aber beim Betrachten schöner Bilder bekommt man Energie geschenkt. Man beginnt zu träumen, was man nach dem Krieg machen könnte. Statt schrille Sirenen hört man Grillen zirpen, statt brennende Krankenhäuser sieht man Flöhe in der Whiskey-Bar tanzen.“

Hanno Rauterberg „Und das ist Kunst?!“ S. 281, 3. Auflage, November 2015

 „Gute Kunst, egal welche Funktion sie erfüllt, lebt aus dem Bedürfnis, sich die Welt anzueignen und sie in der Aneignung neu zu erfinden. Sich in ihr selbst zu begegnen, es aber bei dieser Selbstbegegnung nicht zu belassen. Das Bedürfnis nach einer solchen Kunst ist gross: nach Bildern, die etwas teilen wollen und die sich mit anderen teilen lassen. Kant nennt es »eine Vorstellungsart, die für sich selbst zweckmäßig ist, und obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der Gemütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert.“

© Sibylle Laubscher, Arisdorf, 31. März 2022