Die Krise der Wissenschaften und der Künste
Wir Menschen haben ein naturgegebenes Interesse an unserer Weiterentwicklung und zwar bis ins hohe Alter! Deshalb haftet diesem Entwicklungsverständnis so etwas wie eine Automatik an: es entwickelt sich von selbst und selbstverständlich. Wir beachten es gar nicht. Dass aber gerade dieses Interesse an seiner Weiterentwicklung gefährdet oder gar erkranken kann, darauf kommt man deshalb gar nicht. Allem Anschein nach trat aber eine solche Erkrankung ein. Denn wir können längst eine Erkrankung des Menschen in seiner Mitte diagnostizieren und folgerichtig aktuell auch in der Mitte der Gesellschaft. Warnende Phänomene vom Verlust gesellschaftlicher Normen des Gemeinsamen, bis hin zu einem zerrinnenden Demokratieverständnis als Grundlagen dieser Norm lassen das Krankheitsbild deutlich werden. In den Parlamenten dominieren Fortschritts-Erwartungen, welche allerdings das Gegenteil bewirken: Unsicherheiten, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Migration, Ängste gegenüber künstlicher Intelligenz, usw. Der Kern, um den es gehen müsste, liegt in einer völlig abhanden gekommenen inhaltlichen Debatte zu Ethikfragen und wie wir in Zukunft miteinander leben wollen. Wollen wir etwa in einer Gesellschaft von „Ich-Unternehmern“ oder einer solchen, in der die Menschen aus einer starken gesellschaftlichen Mitte Gewissheit und Sicherheit erhalten leben? Mindestens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der wissenschaftlich-technische Fortschritt immer unlösbar gekoppelt mit humanem Fortschritt.
Diese Mitte ist vergleichbar mit dem Mittelpunkt einer Waage und ihren beiden Waagschalen. Das Gleichgewichten, der gesellschaftliche Ausgleich, welcher das Auseinanderdriften gesellschaftlicher Strömungen auffängt und kompensatorisch verhindert, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen abstürzen. Das könnte die Stärke der Demokratie zeigen.
Wollten wir denn tatsächlich, dass aus den stetigen Idealen vom Wahren, vom Guten und Schönen nun das Machbare das Wahre wurde, das Nützliche nun das Gute sein soll und sich das Schöne durch Gewinn zu erkennen gibt? Sieht gesellschaftlicher Fortschritt so aus?
Wie müssen wir uns das mit der „Mitte“ des Menschen vorstellen? Woraus ergibt sich diese Mitte und wie erhalten wir diese Mitte-Kraft? Es wird überraschen, dass wir diese Mittebildung ausschließlich aus der Kunstkraft des Menschen entwickeln können. Überraschen wird es Sie deshalb, weil die Kunst gleich wo am gesellschaftlichen Diskurs gar nicht beteiligt wird.
Doch wir müssen uns daran erinnern, dass die Kunst im Bezugsfeld von Natur (Materie) und Geist als selbstschöpferisches Lebensprinzip im Menschen verankert ist und stets auf seinen Ursprung verweist, um sich dort zu erneuern als Position der Mitte. So ist die Mitte (= die Kunstkraft des Menschen) die Vermittlerin zwischen dem Idealen und Realen. Die Kunstkraft ist Formgeberin für alles. Wenn Aristoteles erklärt, dass alles Gewordene immer eine Einheit ist aus Materie und Form, dann ist Formwollen vom Kunstwollen nicht zu trennen. Dem Formwollen der Natur stellt der Mensch sein Kunstwollen gegenüber: Dem Gewachsenen steht das künstlich Gemachte gegenüber.
Damit unter meinen Lesern keine Missverständnisse aufkommen: es geht zunächst ausschließlich um die KRAFT zur Form, um die Kunstkraft und noch lange nicht um Kunstwerke! Diese können entstehen, müssen aber nicht. Da die Kunst frei ist. Formen allerdings müssen entstehen. Ohne sie ist ein heilsames Zusammenleben der Menschen unmöglich.
Dies alles wissen wir spätestens aus der Kultur der Antike und dem Aufkommen des Humanismus als literarische Form im 14. Jahrhundert unter der Führung des italienischen Dichters und Historikers Francesco Petrarca (1304 -1374).
Fransceco Petrarca
Zeichnung von Altichiero da Zevio etwas 1370 bis 1380
Von ihm stammt der Satz: „Wenig Kunst, der Bücher viel, das ist der Narren Frevelspiel.“
Bildquelle: Wikipedia.org
Daran anschließend erwähne ich einmal mehr den Philosophen Pico della Mirandola (1463 – 1494) und seine Rede „Über die Würde des Menschen“, die er offensichtlich nie wirklich hielt, jedoch schriftlich abfasste.
Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen
„In die Mitte zwischen allem Erschaffenen ist der Mensch gestellt als Verbindungsglied der ganzen kreatürlichen Natur.“
Er lässt Gott zu den Menschen sprechen:
„Nicht Himmlisch, nicht Irdisch, haben Wir dich geschaffen. Denn du sollst dein eigener Werkmeister und Bildner sein und dich aus dem Stoffe, der dir zusagt formen.“
Der Mensch, als zentrales Wesen der gesamten Schöpfung erwacht zur eigener Würde und Willensfreiheit. Selbstschöpferisch gibt er sich in Freiheit seine eigene Form.
Bildquelle: Wikipeidia.org
Der Mensch, als zentrales Wesen der gesamten Schöpfung erwacht zu eigener Würde und Willensfreiheit. Selbstschöpferisch gibt er sich in Freiheit seine eigene Form.
Eine Ethik-Debatte, welche heute kaum jemand ernsthaft führt, müsste eine Debatte über den Humanismus sein anstelle der dauernd geforderten Demokratiedebatte. Meine Frage: wie soll angesichts eines verloren gegangenen Bildes vom Menschen eine Demokratiedebatte überhaupt grundlegend geführt werden? Vielleicht jeder gegen jeden in aller Freiheit?
Nirgendwo sonst ist der Mensch sich selbst so nah wie in der Kunst. Sie ist nur von ihm. Deshalb müssen wir den Zugang zu Kunstkraft in uns wieder öffnen und unterrichten.
Wenn sich alles in einer immer schnelleren Weise kulturell ändert, so muss der Humanismus bleiben und sich vor allem mit der Frage beschäftigen, wie wir unsere Kinder für die Zukunft richtig bilden? Die kognitive Schlagseite unseres Bildungswesens (in Wirklichkeit geht es dabei fast nur um Ausbildung) drängt die musische Bildung an den Rand. Es muss jedoch ein Ausgleich entstehen zwischen Sinnlichkeit und der Fähigkeit, Urteile fällen zu können. Nur aus dieser Balancefähigkeit wie vorher am Beispiel der Waage erklärt, entstehen Selbstbestimmung und „Ich“-starke Persönlichkeiten. In einer Gesellschaft, in der Wahrnehmungsstörungen täglich zunehmen, in der kaum noch jemand hinhören und hinschauen kann, bleibt die Kunst das einzige und letzte Übungsfeld.
Wir müssen aus der Krise von Wissenschaft und Kunst herausfinden und aus dieser Krise Zukunftschancen herausarbeiten. Von den Griechen lernten wir, dass „Krise“, von „Krínein“, gleich scheiden, trennen, der Zustand, welcher zu einer Entscheidung drängt, nicht ein Ende markiert, sondern eine Metamorphose als Chance zu Neuem in der Mitte zwischen Altem, welches vergeht und Neuem, welches wir noch nicht gut erkennen können.
An dieser Stelle möchte ich auf den Philosophen Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) hinweisen und aus seiner Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ zitieren:
„… denn nur als ästhetisches Phänomen (A. d. A. äußerliche Formwahrnehmung und Wahrnehmung dessen, was diese Form innerlich mit mir macht) ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt… und diese existenzielle Erfahrungen in Phänomene der Kunst zu verwandeln. Das eigentümliche Vermögen, existenzielle Erfahrungen in Phänomene der Kunst zu verwandeln, schafft eine neue vor allem selbstständige Perspektive auf die Formen der Religion und Wissenschaft als Formen der Kunst aus der Perspektive, dem Blickwinkel der Kunst.“
Wie konnte es so weit kommen, dass die Gestaltungskräfte der Kunst und ihre Ausdrucksformen an der Gestaltung der Gesellschaft nicht mehr beteiligt wurden? Warum haben die Menschen heute das Vertrauen in ihre Wissenschaften verloren? Warum treten eher Ängste gegenüber der gefährlichen, dunklen Seite der Wissenschaften auf?
Es macht das Paradox der modernen Wissenschaften aus, dass sie ihre großen Erfolge im Fortschritt der Erkenntnis mit einem Verzicht an Erkenntnis errungen hat. In diesem Zusammenhang spielt die Bevorzugung eine Rolle, sich heute vor allem mit eindeutig entscheidbaren und einer intersubjektiven Verständigung dienlichen Fragen zu beschäftigen. Dabei nimmt man in Kauf, nur solche Fragen überhaupt noch zuzulassen, die eindeutige Fragen sind, bzw. nur solche, über die eine eindeutig, methodisch kontrollierbare Verständigung möglich ist.
Jedoch die tatsächlichen Probleme und den damit einhergehenden Fragen, vor die sich der heutige Mensch gestellt sieht, sind gerade jene nicht eindeutig entscheidbaren Fragen.
Aus dieser unnatürlichen Verhaltensweise, die wie eine gewaltsame Unterdrückung wirkt, resultiert so etwas wie eine pathologisch gewordene Gesellschaft, wie ich zu Anfang erwähnte. Man darf die Augen nicht davor verschließen!
Ein deutliches Merkmal für einen solchen, die ganze Gesellschaft ergreifenden Krankheitsprozess ist der Verlust der Fähigkeit, Realitäten zu erkennen, wie auch der Verlust des Willens, sich in seinem Handeln durch die Anerkennung von Realitäten bestimmen zu lassen. Sämtliche Argumente und Theorien, die realitätsbestimmt sind, werden dann entweder als ideologisch zurückgewiesen: "Wer sagt denn, dass es wirklich so ist?” oder diejenigen, die sie vorstellen, werden der Irrationalität bezichtigt und sogar bedroht. Unterschiedliche Interessen werden polarisiert. Was einmal fähig war zur Gemeinschaft bricht in Teile auseinander und will, der gemeinsamen Sache verlustig geworden, d.h. unter Aufgabe der Wahrnehmung des jeweils Anderen, dann nur noch und auf ganz kontroverse Weise egoistischen Interessen nachgehen und hart durchsetzen. Dieses Dilemma spielt sich gerade dort ab, wo es der Natur der Sache nach am allerwenigsten stattfinden könnte und damit nicht stattfinden dürfte: in den Wissenschaften, denen das Einheit stiftende Band abhanden kam. Stattdessen werden ideologische Programme aufgebaut, denen man den Anschein des Allgemeingültigen und für die Allgemeinheit Heilsamen gibt. Jedoch diese Programme vertreten krasse vor allem partikuläre Interessen aus Ökonomie und Machtstreben.
Unsere demokratische Gesellschftsordnung steht anscheinend einem derartigen Vorgehen nicht im Wege. Der gemeinte freiheitliche Rahmen wird konterkariert und gegen seinen Sinn und gegen seine Logik ausgenutzt in Form von Funktionärs- und Fraktionsbildungen, die in geschlossenen Systemen nur geschlossenes Denken dulden. Polarisierung und Politisierung untergraben „das Selbstverständnis des Einzelnen im Blick auf die Gesellschaft.“ Genau das ist das zentrale Problem heute!
Worin kann unter diesen Voraussetzungen der Stellenwert der Wissenschaften für die industrialisierte Welt gesehen werden?
Die Antwort lautet: Die Wissenschaften sind zur entscheidenden Produktivkraft gemacht worden für die Entwicklung der Gesellschaft. Man mag diesen Begriff aus der Ökonomie werten wie man will; ich glaube, es ist so, dass sich die Ökonomie zum eigentlichen Bestimmer der Wissenschaften entpuppt.
Denn die Wissenschaften haben in ihrer Existenzform eine Weite angenommen, in der sich alles, was ist, darstellt, und sie bestimmen wie nie zuvor die alle Organisationsformen des Lebens: Wirtschaft, Industrie, Politik, Erziehung und vor allem die öffentlichen Medien. Die Wissenschaften haben längst ihren traditionellen Standort, den eines speziellen Bereiches der arbeitsteilig geordneten Arbeit, verlassen. Sie arbeiten nicht mehr aus der kritischen Distanz zur Gesellschaft, sondern zielen auf den Applaus, der aus Erfolgsstreben zu erreichen ist. So wollen sie anscheinend heute für alle gesellschaftlichen Tätigungen die konstituierende Formen grundlegend zur Verfügung stellen, und zwar in Form von Techniken! Industrielle Techniken geben dabei gleichsam das Vorbild ab für die Technik der gesellschaftlichen Organisationen bis hin zu den Humantechniken, welche das Selbstverständnis der Gesellschaft maßgeblich prägen.
Eine Verdrehung, die unbemerkt in diesem Prozess verlief, zeigt sich darin, dass die aus den Standorten der Wissenschaft, den Universitäten, ausgeflogene Wissenschaft in Gestalt von Projektforschung und totaler Verwissenschaftlichung der Lebensbezüge, selbst nun von einer Woge bedroht wird, die sich auftürmt aus eben den selbst von der Wissenschaft ermöglichten Technologien, die jedoch nun nicht mehr wissenschaftlich geprägt sind, sondern nach Prinzipien von industriellen Produktionsabläufen durchorganisiert sind und erdrückende Mächtigkeit entwickeln.
Indem die Forschung gewollt oder ungewollt auf diesem Wege mit der Wirtschaft und der Politik verzahnt wird, entwickelt sich die Wissenschaft zusehends wirtschaftlich, d.h. sie schaut auf Erfolg und Wachstum. Nicht mehr lenkbar, der Wirtschaft innewohnender Eigendynamik ausgeliefert, bilden die Wissenschaften Superstrukturen aus, dem die "Produzenten“, gemeint sind nach wie vor die Wissenschaftler, ohnmächtig zusehen. Die Universität als Maschine! Das Paradox daran ist, dass dieses Problem der Ohnmacht nicht als ein Ergebnis des Versagens, sondern als ein Ergebnis des Erfolges der Wissenschaft angesehen wird. Wie zu Beginn erwähnt, erklommen die Wissenschaften Gipfel der Erkenntnisse unter einem gleichzeitigen Verlust von Erkenntnissen! Man könnte sagen: Es ist ja heute alles in Hülle und Fülle da, doch die Hauptsache nicht: der Faktor Mensch selbst ist nicht erfasst. Da die Wissenschaft zur entscheidenden Macht wurde, wie wir das heute täglich wahrnehmen können, ist sie selbst zu einem Politikum geworden und zwar an vorderster Stelle. Längst ist die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre ad absurdum geführt, (Drittmittel!). Die im wirtschaftlichen Verständnis propagierte „organisierte Pflege der Wissenschaften” ist heute wahrscheinlich ein unumgängliches Faktum geworden.
Dass die Universität naturgemäß nicht selbst die treibende Kraft dieses Vorganges sein mag, ist verständlich, aber auch wenig ehrlich. Sie wirkt wie ein verschlafenes und verfilztes Wesen, wo jeder gegen jeden zu stehen scheint, gerade so, wie es der Konkurrenzkampf der Wirtschaft kennt und gern sieht. Jedoch muss eine Art Aufwachprozess in Gang kommen, für die beispiellose Gefährdung und Bedrohung des Sinns und des Charakters der Wissenschaften, und man muss Verantwortung übernehmen, denn nichts ist so rasch zerstörbar wie die Wissenschaft und die Kunst. Da muss man gar nicht weit schauen in andere Länder oder in unsere jüngste Vergangenheit.
Die vor allem aus den Naturwissenschaften so bedrohlich wirkende Ideologisierung und starke pragmatische Funktionalisierung hat ihre Ursache jedoch auch noch darin, dass aus o.ä. Gründen so etwas wie eine Degeneration der Theoriefähigkeit der Wissenschaften entstand, der sich eine Veränderung unseres Verhältnisses zu den Wissenschaften und der technologischen Gesellschaft im ganzen anschließt.
Die auftauchende Frage nach Sinn und Ziel der Wissenschaft ist - das mag überraschend klingen - keine wissenschaftliche Fragestellung, so wie auch die Frage nach dem Menschen und den Daten der Ermittlung der Prioritäten für die Forschung nicht durch die Wissenschaft allein beantwortet werden darf. Ist die erste eine philosophisch-künstlerische Fragestellung, so ist die letztere eine politische Frage. Wer stellt Bezüge her?
Wir müssen feststellen, dass der allenthalben politisch gewordene Kampf um die Kriterien der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften, immer vernehmbarer ein Unbehagen am Erleben der Wissenschaft erzeugt. Die Wissenschaften bemerken zwar die stetig und deutlich abnehmende Akzeptanz durch die Gesellschaft, wie auch die Tatsache, dass die Medien heute als die Beantworter von Existenzfragen der Wissenschaft die Schau, d.h. heute, die Wirkung und Wirkensweise nehmen, doch sie scheinen dem nicht Einhalt gebieten zu können. Warum ist das so?
Ein kurzer Blick zurück in die Entwicklung der Wissenschaften unter dem hier aufgegriffenen Aspekt der Krise zeigt folgendes: War für Platon der "wissenschaftliche" Weg immer auch oder nur der Weg zur Wahrheit, die den Menschen aus der Höhle und den Anschein der Dinge gefesselten Existenz befreien konnte, so plädierte Immanuel Kant deshalb für eine exakte Wissenschaft, weil für ihn ihr aufklärerischer Wesenszug ein kontinuierliches Fortschreiten in der Entwicklung der Menschen gewährleistete und damit einer eher schwankend sich darbietenden Metaphysik ein brauchbares Äquivalent darbot. Jedoch, und das ist entscheidend bei Kant und wird heute all zu leicht übergangen, ging er davon aus, dass die Begrenztheit wissenschaftlich exakter Erkenntnis längst nicht mit der des Denkens zusammenfällt, welches nämlich durch die Notwendigkeit der Vernunft über sie – die Erkenntnisse der Wissenschaften – weit hinauswächst und hinausweist.
Friedrich Nietzsche sah die Weltvernichtung durch die Wissenschaften voraus, deren hemmungslose Fortschrittspropaganda die sich ausbreitende Barbarei produzieren.
Friedrich Nietzsche: „Das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft gefunden werden.“
Aus „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.“
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Er erkannte: „dass die Forderung nach dem Ideal vom objektiven Erkenntnisstreben die subjektive lebendige Kraft des Fühlens, Wollens und Deutens im Menschen abtötet.“
„Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahn angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert… Wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beißt – da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.“
Das Ideal objektiver Erkenntnis war für ihn wohl nur auf dem Fundament einer Moralität möglich, die im Christentum ihren tragenden Grund und ihr sanktionierendes (=geheiligtes) Prinzip hatte. Nun hatte er zwar die negative metaphysische Funktion der modernen Wissenschaften bejaht, jedoch ihren Anspruch, jene ersetzen zu können, radikal abgelehnt. Wissenschaft hatte für ihn den Sinn, den Menschen ganz aus sich selbst heraus, allein aus sich und befreit von Götterwillen, in die Entscheidung zu stellen, entweder sich selbst zu negieren, indem er sich dem Prinzip moderner Wissenschaft unterordnet, oder die Aufhebung jenes objektiv erscheinenden Sinnes als Herausforderung anzunehmen, um im Übergang vom Menschen zum „gemeinten“ Menschen (=Übermenschen) aus sich selbst heraus als eine Gestalt hervorzubringen, durch die er der an sich inhaltsleeren, d.h. sinnlosen Welt erst ihren Sinn einverleibt. Erst ein solcher frei und selbst hervorgebrachter Sinn könne den Schöpfungs-Sinn rechtfertigen. Damit hat er den künstlerischen Schaffensprozess [wieder] formuliert, wie vor ihm schon andere auch. Konsequent verfasste er die "Geburt der Tragödie".
Fazit:
Sind die Wissenschaften als metaphysisch, ethisch oder politisch transzendendierende Auslegungen aus dem Schosse der philosophischen Vernunft hervorgegangen und begründet worden, so muss heute in Anbetracht der festgestellten Krise der Wissenschaften deren Rettung in der Verbindung zur Kunst herbeigeführt werden. Mit Hilfe der Kunst wäre das „Andere“ wiederzuentdecken, was durch die Einseitigkeit der Erkenntnisse in den Wissenschaften verloren ging. Mit dieser Forderung nach Kunst und vor allem mit dem Hinweis auf die Gestaltungskräfte der Kunst als nicht hintergehbare Ausdrucksform des Menschen gerade für die Bildung allgemeiner Lebensbezüge, schließt Nietzsche an das Denken von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an, welcher der Kunst Wahrheitsfunktion zuschreibt. Diese Wahrheitsfunktion ergibt sich für Schelling nicht daraus, dass die Kunst sich selbst betrachtet, betrachten darf (darauf komme ich am Ende noch zu sprechen bezüglich des zeitgenössischen Kunstschaffens), sondern darin, dass sie in der Lage ist, die wahre Beschaffenheit der Welt aufzuzeigen. Der aus den Gliedern von Natur und Geschichte bestehende Bau der Welt besitzt in der Kunst, so Schelling, den Zusammenhalt herstellenden und das Prinzip des Zusammenhalts aufzeigenden "SCHLUSSTEIN" (wörtlich!). Die Kunst sei das allgemeine Organon - auch der Philosophie, weil die Kunst älter ist als diese und auch der Schlussstein des ganzen Gewölbes. Seine Sichtweise erinnert an das Kreuzrippengewölbe gotischer Kirchenbauwerke, in dessen Mitte es einen „Schlussstein“ gibt, welcher von der Statik her gesehen nicht ein bloßer Knotenpunkt oder Zusammenhalt im Verständnis eines Abschlusses von Gewölberippen ist, sondern Träger und gleichzeitig auch Weitergeber von Kraftlinien und Kräften. Im Moment, d. h. in dem Augenblick ihres Eintreffens werden die statischen Kräfte unmittelbar an den nächsten Schlussstein, und von jenem gleich wieder an den folgenden weitergeleitet. Nicht ruhende Statik prägt das Gewölbe, sondern bewegter Fluss von Kräften. Daher die Wirkung eines bewegt-musikalischen Klangkörpers der gotischen Kathedralenarchitektur. Wenn er, der Schlussstein, man könnte ihn auch "Klingstein" nennen, Ort des Zusammenhaltes ist, so wird er doch selbst wiederum vom Ganzen des Baus getragen: gemäß dem christlichen Grundsatz: „Ein jeder trage des Anderen Last!“. Dem könnte man für die Gegenwart dazu fügen: „… sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit bewirkend!“ (Martin Rabe).
Bis zu Nietzsche räumte man der Kunst kaum Chancen der Mitwirkung an gesellschaftlichen Prozessen ein. Diese Haltung verstärkte sich zunehmend bis in unsere Zeit, in welcher die Gestaltungskräfte durch Kunst für unsere Gesellschaft überhaupt keine Rolle mehr spielen und nicht erwähnt werden. Stets ist von Verhältnissen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften die Rede, wenn es noch niveauvoll zugeht. Doch von der Kunst, welche ihren Ort zwischen beiden hat, ist keine Rede.
Ich erwähnte vorher, dass ich noch einmal darauf zurückkommen wolle, dass die Wahrheitsfunktion der Kunst sich nicht daraus ergibt, dass sich die Kunst selbst betrachtet, bzw. mit sich selbst beschäftigt. Dann verliert sie diesen Anspruch. Doch genau das wird in den zeitgenössischen Künsten allerdings vorrangig betrieben! D. h., man beschäftigt sich vorrangig mit sich selbst, und wenn es noch einigermaßen passend zugeht, spielt sich das narzisstische Gehabe im rein Artifiziellen (Künstler, Galeristen und Museen unter sich) ab. So entsteht keine Hilfe, denn auch die Kunst steckt in der Krise ihrer Identität, d.h. sie hat eben auch den Menschen, oder besser andersherum erklärt, die Menschen haben die Kunst preisgegeben, z.B. an die Ökonomie in Form von Kunstmarketing.
Wer oder was hilft?
Eingangs führte ich schon mir wichtig erscheinende Hinweise hierzu an, beispielsweise die angeregte Humanismus-Debatte. Weiterhin möchte ich ein besonderes Augenmerk auf die Bildung (nicht Ausbildung!) der Menschen heute richten, die stets gut informiert sind, jedoch selten über gesichertes Wissen verfügen und hier speziell den sogenannten digitalen Fortschritt. Davor hegen nicht wenige Menschen eher Ängste als Vertrauen. Ängste bezüglich des Verlustes einer notwendigen Fähigkeit der Wahrnehmung von Wirklichem: Was ist richtig und was ist nicht wahr? Was kann ich glauben? Was ist das Dauernde?
Durch die zunehmende Abhängigkeit von virtuellen Informationswelten geht das selbstständige und selbstschöpferische Erkenntnisvermögen gegenüber unserer Welt fast völlig verloren. Damit einher geht der Verlust von Elementarerlebnissen, auf die wir für ein menschliches Leben nicht verzichten können.
Was sind Elementarerlebnisse?
Ich möchte diese Frage aus dem Blickwinkel der Kunst beantworten und weniger aus dem Blickwinkel der Philosophie, aus der von Rudolf Carnap (1891 – 1970) dieser Begriff gebildet wurde. Elementarerlebnisse entwickeln sich weniger aus technischen Theorien der Naturwissenschaften oder philosophischen Gebilden, sondern aus den Seelengründen, dem Staunen und der Neugierde des Menschen vor der Schöpfung. Sie bezeichnen den unteilbaren Moment (Augenblick), welchen wir mit allen unseren Sinnen gleichzeitig erfassen. Dazu verhilft eine Sinnenfrische und der dem Menschen eigene freie Spieltrieb. An jedem Punkt seiner menschlichen Totalität (Ganzheit) kann er dann seine Kunstkraft ansetzten. Doch es versiegen die Quellen der Kunstkraft, wenn die Menschen nicht mehr zu Elementarerlebnissen fähig sind, wenn sie blind vor der Welt und von Angst in der Welt geprägt sind und dadurch das Grundvertrauen in die Schöpfung verloren geht. Dann haben wir allerdings gar nichts Menschliches mehr.
Nun höre ich förmlich Proteste und Kritiken, man lebe schließlich im 21. Jahrhundert und nicht im 14. Jahrhundert und es brauchte moderne Lösungen! Mit dem Hinweis: früher war alles besser, sei niemandem geholfen! Natürlich war in zurückliegenden Zeiten nicht alles besser, um sie wieder zurück zu holen. Das wäre dummer Traditionalismus, den ich selbstverständlich ablehne. Wofür ich allerdings plädiere, ist die Geschichtslosigkeit zu beenden, von der wir regelrecht befallen sind und die den Verlust von kultureller Identität jedes Einzelnen nach sich zieht. Denn aus der Geschichte erfahren wir, warum wir so sind, wie wir sind, dass wir auch andere hätten sein können und warum wir es nicht geworden sind, um von dort aus Ideen zu entwickeln für die Zukunft. Aus der Tradition nehmen wir dasjenige, was uns wertvoll erscheint, um es mit demjenigen in Beziehung zu setzten, was uns heute bedeutsam ist. Aus dieser Zusammenfügung wächst verlebendigte Tradition und kein Traditionalismus.
Mit einem profunden Bildungs- und Wissensangebot haben unsere Schulen und Universitäten dies zu vermitteln. Nur auf diesem Wege können sie aufzeigen, dass es zum vorherrschenden reinen Zweck-Nutzen-Denken Gegenwelten, ja Gegenwerte und das es ein Grundbedürfnis gibt nach einem anderen als dem Alltäglichen. Wenn die Schule ihre Aufgabe immer noch darin sieht, mündige Bürger zu erziehen, dann muss sie ein Wissen zur Verfügung stellen, dass es einem erlaubt, Zusammenhänge zu begreifen. Solches lernt man nur über die Bildung und lässt sich kaum in zielorientierten Leistungskursen mit anteiligem Spezialwissen erreichen. Die Verwissenschaftlichung der Schulen, wie auch des gesamten gesellschaftlichen Lebens zählt gewiss zu den gewaltigsten Irrtümern der Kultur- und Bildungspolitik. Darüber wurden nicht nur Fantasie, Spiel und Kreativität vergessen, sondern auch die Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung, die sich durch Nichtvorhersehbares und der reinen Lust und Freude an Wissen einstellt. Es wurde auch die Problematik nicht beachtet, wie schwer ganz generell es ist, gesichertes Wissen zu erlangen. Was ist das für ein Wissen, welches ich „herunterladen“ kann? Ist das Wissen der Antike das gleiche wie unser heutiges Wissen?
Der Kanon der kulturellen Werte muss in der Gegenwart immer neu erarbeitet werden. Lebendig ist dieser Kanon dann, wenn uns seine Güter immer neu durchwirbeln, wenn sie quer stehen zum Gewohnten, wenn sie Augen öffnen, wenn sie den Blick richten auf andere Welten als derjenigen, die wir mit griffigen Aktualisierungen so forsch in unserem Alltag beschreiben. Die vier Grundpfeiler der Kultur: Bildung, Wissen, Geschichte und Tradition drohen weg zu brechen, wenn sie es nicht heute schon sind. In der Kunst gibt es eine jahrhundertalte Tradition darin, an den Themen weiterzuarbeiten, die immer gut waren, um sie neu zu erleben und zu steigern nicht zu verkomplizieren. Dieser Kunstprozess ist viel älter als die modernistische Suche nach Originalität und Erfindung. Das Eigene spiegelt dann in neuer Dimension zurück und verhilft zur Bildung von Identität. Auch darüber können wir das Staunen lernen, was einmal in Erziehung und Kultur möglich war und wie herrlich weit wir es heute gebracht haben.
Tradition als immer Neues, als gegenwärtige Zeit – man mag dies kritisieren und ablehnen. Jedoch sind die kulturellen Güter einmal verschwunden oder abgeschafft, lassen sie sich nie mehr aufrichten. Wir können nicht von der Hand in den Mund leben und wie gebannt nur eine Perspektive wahrnehmen, die richtungsgebend erscheint, die jedoch mit Bildung und Kultur gar nichts, aber auch gar nichts zu tun hat und Wettbewerbsfähigkeit heißt. Man kann diesen Richtungsgeber Wettbewerbsfähigkeit heute wohl nicht mehr negieren. Doch brauchen wir reale Gegenwelten, um die Einseitigkeit und das darin entstehende Ungleichgewicht unserer Kultur einzudämmen. Das wäre ein zukunftsweisendes Motiv!
Der deutsche Philosoph Dieter Henrich (1927 – 2022) bemerkt in seiner Schrift: „Sterbliche Gedanken“ im Jahre 2015: „Ich habe mit großer Zustimmung beobachtet, dass junge Leute philosophische Begegnungsorte und Zeitschriften aufmachen. Ein Beispiel dafür war für eine gute Weile der „Blaue Reiter“. Das ist eine philosophische Zeitschrift, die damals von ganz jungen Leuten und nicht von professionellen getragen und gemacht worden ist. Sie haben dann eine Frische und Direktheit des Fragens, die wohl tut. Ich bin also zuversichtlich. Ich muss sagen, eher bin ich, was Deutschland anlangt, bedrückt. Die Philosophie gewinnt große Formen meist im Zusammenhang mit einem kulturellen Aufschwung, den man bei uns (Deutschland) nicht erkennen kann.“
Henrich, welcher in mehr als 200 Publikationen schon sehr früh auf das Versiegen von kultureller Verantwortung aus Bildung und Tradition hinwies, drang wie zahlreiche andere Mahner mit seiner Aufklärung nicht durch. Warum ist das so gekommen, beziehungsweise nicht besser gelungen?
Zum Schluss möchte ich noch einmal auf den von mir eingeforderten Humanismus zurückkommen und erklären, dass sich dieser seit Beginn über mehrere Jahrhunderte hinweg unter den Gelehrten weiterentwickelte. Seine Bezeichnung für eine Geisteshaltung, in deren Zentrum Formen der Würde jedes einzelnen Menschen steht, ein Leben ohne Gewalt und der freien Meinungsäußerung, erhielt er in Deutschland erst durch den Philosophen Friedrich Emmanuel Niethammer in seiner 1808 erschienenen Schrift: „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit.“ Darin verteidigt er die an der Antike orientierte Bildung gegen eine nur praktisch-technische Ausbildung an den Realschulen. Der praktische Nutzen soll nicht allein im Vordergrund stehen. Und genau vor dieser Forderung stehen wir heute wieder: allein das Nützliche soll das Gute sein? Übrigens, was kaum bekannt ist, äußerte sich der Schriftsteller, Maler und Pädagoge Aldalbert Stifter (1805 – 1868) in seinen „Pädagogischen Schriften“ in gleicher Weise.
Henrich gibt uns in der hier erwähnten Schrift einen Vers des Dichters Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) mit auf den Weg:
ANDENKEN
Nicht ist es gut,
Seellos von sterblichen Gedanken zu sein.
Doch gut
Ist ein Gespräch und zu sagen
Des Herzens Meinung.
Henrich: „der tiefsten Überzeugungen kann man gar nicht für sich allein ganz sicher sein. Man muss sie in vertrautem Gespräch zu einem anderen aussprechen.“
Ein kleines Kind, welches beginnt, das Sprechen zu lernen, sagt zuerst und sehr lange nur „Du“, ehe es das „Ich“ viel später für sich findet.
© Martin Rabe & Sibylle Laubscher
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