• Wie viel Kunst braucht der Mensch?

Wie viel Kunst braucht der Mensch?

Diese Frage erweckt den Anschein, dass der Mensch „Kunst braucht“, etwa so wie er die Luft zum atmen, das Wasser gegen den Durst, Lebensmittel gegen den Hunger oder eine bestimmte Körpertemperatur, den Schlaf usw. Jedoch Kunst? Sind jene Faktoren lebenswichtig und messbar, so ist die Frage, ob das auch für die Kunst gilt, zunächst wohl nicht so eindeutig zu beantworten. Nicht alle Menschen sind der Überzeugung, vielleicht sogar die Mehrheit der Gesellschaft nicht, denn für sie gibt es Wichtigeres und Notwendigeres zu tun, dass aller Anstrengungen bedarf. Kunst ja schon, als etwas für den Müßiggang, die Erbauung und vor allem für diejenigen, die sie sich leisten können.

Oder sollten wir diese Frage gar nicht stellen, da sie in Wirklichkeit nicht existiert, denn: „Alle Menschen sind Künstler“ formulierte der Philosoph und Theologe Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) vor ca. 250 Jahren (Schleiermachers Poetische Versuche).

Wenn alle Menschen von Geburt an Künstler sind, dann wäre zu erwarten, dass alle Menschen zu dem, was sie täglich tun, auch jeweils Kunstwerke schaffen. So ist es jedoch nicht. Nur Wenige betreiben die Künste als eine Ausdrucksform, wie es zum Beispiel unsere Sprache ist. Was könnte Schleiermacher also gemeint haben? Er entwickelte seine These aus den Erkenntnissen der Epoche der sogenannten „Aufklärung“ und der „Romantik“ über die Frage nach dem, was des Menschen Geist sei: für ihn ein selbstschöpferisches Lebensprinzip, dass stets auf den Ursprung verweist. „Poesis“ nannten die Griechen diese Kraft im Menschen, ein Wurzelgrund im Inneren des Selbst eines jeden Subjektes. Durch den Willen zur Tat weckt Poesis als eine selbstschöpferische Kraft Formkräfte für die Gestaltung seines Lebens. So entstehen die Lebensformen, durch welche der Einzelne sich mit anderen Menschen und der Natur in Beziehung zu setzen vermag. Und diese Formkräfte entwickeln sich aus Kunst, denn Kunst zielt immer auf die Bildung von Formen. Eine Formkraft, die jedem Menschen mitgegeben ist. So ist Schleiermachers Philosophie „alle Menschen sind Künstler“ wohl begründet.

Folgerichtig muss jetzt unterschieden werden zwischen der vorher beschriebenen geschenkten Kunstkraft im Menschen einerseits und dem subjektiven Drang zur Fertigung von Kunstwerken andererseits.

Doch warum überhaupt drängt es Menschen seit jeher, Kunstformen zu schaffen? Warum setzten sie der in ihrer Gesamtheit vollendeten Natur das selbstvollendete Werk gegenüber: das Künstliche neben oder gegen das Natürliche? Weil sich die Menschen als eine geistige Einheit erleben, die schon vor der Schöpfung bestand und ihnen deshalb als ein Höheres, Übernatürliches erscheint. Dieses Mehr, über die Natur Hinausweisende, dieses Höhere, möchten sie in ihrer natürlichen Welt verwirklicht sehen, um es erleben zu können als eine Weitung und Steigerung der Lebenssituation, in welcher sich der Einzelne oder die Gesellschaft befindet. „So wird in der vom Menschen gemachten Kunst die Vollkommenheit nicht begehrt aus Zweck und Egoismus, sondern geliebt aus Sehnsucht nach Entfaltung und Entwicklung. Die Zweckfreiheit, das Selbstlose der Kunstwerke spiegelt geradezu die Verwandlung des Egoismus (Macht über Geist und Handlung der Menschen und Besitz) in Liebe zur Menschheit.“ (Martin Rabe, geb. 1942). Es gilt das Mass des Menschen, seine Vollkommenheit. So schaffen Menschen Kunst für Menschen aus einer Position der Mitte zwischen dem Reich der Sinne und dem Reich der Vernunft. Damit setzten sie Ordnung ins Chaos: - Ordnung in die unendlichen Wahrnehmungen unserer Sinne – Ordnung in die Wege der Vernunft, die wiederum so vernünftig ist, dass wir durch sie auch menschlich begreifen lernen, mit ihrer Hilfe nicht alles erklären zu können.

Der Sophist Protagoras (485 – 415 vor Christus) drückte diese Haltung in einem Grundsatz aus: „Der Mensch (lat. homo) ist das Mass (lat. mensura) aller Dinge, der Seienden wie sie sind, der Nichtseienden wie sie nicht sind.“ Mit diesem sogenannten „Homo-Mensura Satz“ ist eine bis heute bestehende Grundline der gesamten kulturellen Entwicklung Europas aufgezeigt. Die Entwicklung des Menschen zum Bewusstsein über sich selbst.

Damit haben wir nun die Frage nach der Messbarkeit beantwortet. Nirgendwo sonst, in keiner Religion und Wissenschaft, gilt ausschließlich der Mensch als bestimmendes Zentrum von Denken und Handeln, so wie es in der Kunst der Fall ist. Dazu brauchen wir stets ein Menschenbild zur Orientierung ganz gleich auf welchem Felde. Es gibt viele Welten, die vorstellbar sind. Doch nur jene Welt hat Anspruch auf Realität, welche in Bezug auf den Menschen erfasst wird. Welches Bild vom Menschen haben wir denn heute? Welcher Humanismus prägt unsere Gegenwart?

Bevor ich meine Gedanken weiter entwickle, ist es an dieser Stelle vielleicht dienlich, der Frage nachzugehen, woher der Begriff Kunst überhaupt stammt. Sie kennen sicherlich den flotten jedoch kaum ausreichenden Satz: „Kunst kommt von Können!“ Ganz sicher nicht. Kunst kommt zunächst von Erleben. Ohne ein Erlebnis und zwar eines Elementarerlebnisses habe ich keinen Anlass, keine Inspiration, künstlerisch tätig zu werden. Durch Kunst kann ich Erlebtes verstehen, indem ich im Erlebten Eigenes, etwas von mir selbst erkenne. Dann ist es ein Elementarerlebnis.

Die Vorstellung von „Können“ mag sich aus dem griechischen Wort „Techne“ entwickelt haben, womit so etwas wie Kunstfertigkeit gemeint sein kann.

Das Kunstverständnis, so wie wir es heute pflegen, gab es im antiken Griechenland nicht. Auch genossen dort die Künstler lange Zeit kein hohes Ansehen. Das änderte sich erst mit Sokrates, welcher selbst bei seinem Vater als Bildhauer in die Lehre ging. Kunst im Sinne von „Können“ leitet sich eher ab von „Melete“, „Epimeleia“ und betrifft die „Sorgsamkeit des Besorgens“, die Sorge um etwas. Das Verständnis nun einer Einheit von Melete und Techne kennzeichnet gewissermaßen eine Grundstellung zur Erkenntnis des „Seienden“ aus sich selbst heraus, wie es ein Kunstwerk stets ist. Ein Kunstwerk verweist immer auf sich selbst und niemals auf etwas ausserhalb seiner selbst. Seine Wirkung erfährt es im und durch den Rezipienten.  

Unser heutiger Begriff von Kunst wurde Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt und zwar vorrangig durch Immanuel Kant (1724 – 1804). Im Zuge seiner aufklärenden Gedanken, welche den autonomen Bürger hervorhob, wurde die Voraussetzung einer auch dann erst möglichen autonomen Kunst geschaffen. Eine freie Kunst setzt einen freien Bürger voraus.

Begriffshistorisch leitet sich Kunst vom althochdeutschen Wort „Kunnan“ ab. In ihm steckt das Verb „Künden“, eine Botschaft eben. Und in der Tat steckt in jedem Kunstwerk eine Botschaft, nie im Sinne einer Mission, sondern Botschaft als ein Verweis auf das „Mögliche“, welches das faktische Geschehen übersteigt und auf Entwicklung zur Freiheit zielt. So hat jede Kunst einen kommunikablen Aussagecharakter.  Sie sagt etwas aus und wirkt damit. Sie ist eine nicht hintergehbare Ausdrucksform des Menschen, so wie es die Sprache ist. Kunst und Sprache gehören zusammen und zwar Sprache als „meinende Sprache“, die von Begrifflichkeiten bestimmt ist, mit denen wir volkommen frei dasjenige zum Ausdruck bringen wollen, was wir meinen. Die Meinungsfreiheit.

Unter Zuhilfenahme der Sprache wollen wir uns nicht nur die Welt erklären, sondern uns vorrangig mit anderen Menschen darüber verständigen, um nicht zu vereinsamen. Das ist ein zutiefst menschliches Anliegen, welches vor allem für Künstler zu der Verpflichtung führt, in ihren Werken und Aussagen dem Rezipienten ein Tor des Hineintretens, des Verstehens in den von ihnen geschaffenen Kunstraum zu geben. Diese Offenheit des Werkes und damit den notwendigen kommunikativen Charakter der Kunst zu erfüllen, ist Aufgabe des Künstlers und seines Kunstwollens. Noch einmal Kant: „Kunst ist subjektiv, aber wir setzen voraus, dass sie auch kommunikabel sei.“

Wohin hat uns denn die Kultivierung durch Kunst heute gebracht? Ich überlasse es gerne jeden von Ihnen, sich an den Ergüssen des zeitgenössischen Kunstschaffens ein Urteil zu bilden, um dann vielleicht der Frage nach zu gehen, wohin dieses schöne Handwerk geraten ist? Es wird viel herum getrommelt und zwar mehr, als neue Werke geschaffen werden, die eine Qualität auch erfüllen. Zog nicht längst jene vorher benannte Beliebigkeit ein, gleich einer Hybris, ein Zuviel? Zu groß, zu teuer, zu viel Abfall etc. Wie viel Kunst braucht der Mensch?

In einer Ästhetik-Kolumne der Zeitschrift „Mekur, Nr. 6“ aus dem Jahre 2007, schreibt der Kunsthistoriker Christian Demand: „… und von allem gibt es immer mehr, mehr Künstler, mehr Sammler, mehr Galerien, mehr Kunstmessen, mehr Museen und Biennalen, mehr Industrie, mehr Pop, mehr Hype…“

Mich erinnert das alles an die berühmte Erzählung des russischen Dichters Leo Tolstoy (1828-1910), welche den Titel trägt: „Wie viel Erde braucht den Mensch?“ Er erzählt die Geschichte des Bauern Pachom. Einer glücklichen Schicksalsfügung verdankt dieser die Möglichkeit, so viel fruchtbaren Ackerboden zu nehmen, wie er braucht. Doch das Wieviel weiß er anscheinend nicht, denn er nimmt mehr Land, als er braucht. Schließlich geht er daran zu Grunde. Er hatte das ihm mögliche menschliche Mass, sein Mass, überschritten.

Wie bekomme ich denn nun das Mass des Menschen in die Kunst?

Ich möchte ihnen dies am Beispiel der musikalischen Kunst erläutern und zwar deshalb, weil die Musik durch ihren rein immateriellen Charakter von allen Künsten am unmittelbarsten auf das seelische Erleben der Menschen einwirkt.

Der Ton erklingt und vergeht. So vollzieht sich die Musik immer in der Zeit. Der Hörende muss sich in diese Zeit begeben. Nur so kann er sie erleben. Die Musik bemächtigt sich also immer unserer Zeit. Die Zeit der Musik ist unsere Zeit und als Zeitkunst dringt sie natürlich besonders beredt an unser Ohr und spricht mit uns durch Klänge, welche uns wie in einem Resonanzraum zum Dialog auffordern. Findet dieser Dialog nicht statt, entgleitet sie uns so, als hätten wir sie nie gehört. Dieser Sprachcharakter ist ihr seit alters her eingeschrieben. Davon zeugt das Wort „Musik“. Die Bezeichnung geht auf antike Gottheiten der Sprache zurück, die uns als „Musen der Welt“ in ihren Erscheinungsformen Aussage und Sinn gaben. Der Zusammenklang der Töne, an denen nichts Irdisches ist, erinnert uns daran, dass der Klang göttlichen Ursprungs ist.

Der antike Mythos, der von den Musen berichtet, beginnt in der Entstehungsgeschichte der Welt. Als Zeus die Welt geschaffen und geordnet hatte, betrachteten die Götter mit stummem Staunen die Herrlichkeit, die sich ihren Augen darbot. Endlich fragte Zeus, ob sie etwas vermissen würden und warum sie die Schöpfung nicht mit Worten und Gesängen feierten? Doch die Welt war trotz der überwältigenden Schönheiten stumm. Sie verharrte in sich selbst ohne Ausdruck. Sie besagte nichts. Um das Fehlende zu ersetzten, um der Welt Stimme, Sprache und Aussage zu geben, zeugte Zeus mit Mnemosyme, der Göttin der Erinnerung und des Gedenkens die neun Musen, welche die Sprachlosigkeit der Schöpfung auflösten. Die Musen repräsentieren jeweils eine Welt der Sprache*. Die Welt und die Dinge benötigen eine Brücke, eine Sprache, mittels derer sie sich den Menschen mitteilen. Ohne die Stimme, ohne Klang bliebe die Schöpfung gleichsam im Göttlichen hängen und fände im Menschen keine Erfüllung.

Dieses kosmologisch orientierte Weltbild der Musik galt noch bis zu Johann Sebastian Bachs Zeit, bis dann im 18. Jahrhundert die Ästhetik der Aufklärung diese Rolle übernahm: eine Formsuche für eine Kunst, die sich an das sich selbst bestimmende freie Subjekt orientierte. Der ins Zentrum gerückte Mensch führte ihn zur seiner Musik, die klassische Musik, oder besser die Musik der Aufklärung. Diese Musik wird durch Gefühle, Empfindungen für die Menschen erlebbar als etwas aus ihrer Welt und nicht mehr von den Göttern. Eine Kunst für den Menschen. Ein Musiker, welcher gute Musik schreiben will, müsse der Musik ein gewisses Etwas geben, welches dadurch wirkt, dass der Mensch etwas von sich selbst in der Musik findet und erlebt. Dieses gewisse Etwas, man nennt es auch „den Schein des Bekannten“ beruht einerseits auf dem, was wir das Normgefüge nennen: das Handwerk, welches für den Komponisten und auch für den Hörer verbindlich ist (der Hörer muss etwas vom Handwerk kennen). Es bildet die Möglichkeit der Allgemeinverständlichkeit der Musik, beziehungsweise von Kunst im Sinne einer Natürlichkeit, welche der Rezipient am tiefsten in der Begegnung mit sich selbst als etwas Bekanntes erfährt. So erst ist Erleben und Verstehen möglich. Der Komponist öffnet ihm ein Tor zu sich selbst in dem richtigen Mass, nicht zu viel und nicht zu wenig. Um dies einmal selbst kennen zu lernen, empfehle ich meinen Lesern, sich die „Mondscheinsonate“ von Beethoven (1770 – 1827) anzuhören, um gewahr zu werden, wie lange der Komponist zu Beginn des Stückes nichts sagt und nur Stimmung musikalisch erzeugt, um erst danach, wenn er den Zuhörer gleichsam „eingefangen hat“, mit der Komposition, also der Sprache, zu beginnen. Die Musik der Aufklärung will eine Musik für alle sein, das ist ihr Anspruch.

Nur so sind zum Beispiel Leopold Mozarts ständige Mahnungen an seinen Sohn Wolfgang zu verstehen, nicht das „Populare“ das heißt das Allgemeinverständliche zu vergessen (Brief vom 13.12.1780): „ich empfehle dir bei deiner Arbeit, nicht einzig und allein für das musikalische, sondern auch für das unmusikalische Publikum zu denken – du weißt, es sind 100 Unwissende gegen 10 wahre Kenner – vergiss also das sogenannte Populare nicht, dass auch die langen Ohren kitzelt.“ Gleich mehrere Beispiele, wie er den Rat des Vaters beachtete, finden sich in der Oper „Die Zauberflöte“. In der Arie „Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich…“ begleitet ein Glockenspiel fröhlich und popular einen regelrechten Ohrwurm, würden wir heute sagen, und Papageno gleich bei seinem ersten  Auftritt behauptet: „ich Vogelfänger bin bekannt bei alt und jung im ganzen Land.“ Diese Lieder wurden in Prag, dem Ort der Uraufführung von den Menschen auf der Strasse gesungen und gepfiffen.

Wie auch schon viel früher die Künstler wussten und beachteten, dass Tor des Menschlichen zu öffnen und auch anzubieten, können wir an zahlreichen Werken beispielsweise der Malerei nachweisen. Nehmen wir dazu ein sehr bekanntes Bild von Raphael (1483 – 1520) „Die Sixtinische Madonna“. Dem feierlichen Bildgeschehen fügte der Maler ganz unten am Rand zwei verträumte, herzige Engelchen hinzu, die förmlich einladen, dem Geschehen um den Papst Sixtus beizuwohnen. 

   

Die Sixtinische Madonna, Raphael, 1512/13, Dresden, Staatliche Gemäldegalerie

Ich habe zum Vergleich einmal die Engelchen wegretuschiert und schon herrscht tiefer Ernst und Abstand in der Atmosphäre. 

In der Portraitmalerei nördlich der Alpen zeigt die oder der Porträtierte in der Regel sein Antlitz von Vorne und selten seitlich im Profil, wie vor allem in Italien üblich. Und dazu wird gerne eine Hand gemalt, so als würde der Betrachter begrüßt. Auch diese Handreichung ist bei italienischen Portraits äußerst selten.

Bildnis eines Mannes mit Münze                                            
Hans Memling, 1480 oder später                                          
Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten              

Reiche Florentinerin
Antonio Pollaiuolo um 1480
Florenz, Uffizien


Und so stellt sich noch einmal die Frage „Wie viel Kunst braucht der Mensch?“

Erst wenn uns der Aussagecharakter von Kunst in allen seinen vielfältigen Erscheinungsformen von früher und heute verbindlich einsichtig ist, wird man Kunst ihrem wahren Anspruch gemäß erfassen können, beziehungsweise in der Einheit von Erleben und Verstehen einem menschengemäßen Umgang zuführen. Dies als Grundvoraussetzung macht uns auch sicherer gegenüber dem exzessiven dummen Kunstkonsum, dem wir in den zeitgenössischen Kunstäußerungen täglich begegnen und von ihnen manipuliert werden. Aktuell spiegelt die Kunst eine Form von Abfallmentalität wider.

Und so stellt sich noch einmal die Frage: „Wie viel Kunst und zwar in Form von Werken braucht der Mensch?“

Einen Aspekt habe ich mit Hinweisen auf die Geschichte und Mythologie zu beantworten versucht: der Mensch bedarf der Kunst als Ausdrucksform, so wie er die Sprache benützt.

Der zweite Aspekt, nämlich die Frage nach der quantifizierbaren Menge von Kunst, also nachdem „wie viel“, lässt sich nur aus der heutigen Situation beantworten, immer mit der Bedingung, dass Kunst eine Ausdrucksform unumstößlich bleibt. Die Antwort kann nur dialektisch ausfallen (Dialektik ist immer das Ergebnis von These und Gegenthese in Form von Synthese):

- Wenn wir nach dem Wie viel fragen, dann unterstellen wir zugleich einen „Zuviel“;

- Wenn es kein Zuviel an Kunst gäbe, bräuchten wir kaum nach dem Wie viel zu fragen!

Antwort: wir brauchen so viel Kunst, um uns einer Scheinkunst, die uns im Alltag entgegen dröhnt, erwehren zu können. Genauso wie wir Sprache gebrauchen, um dem Gesprochenen gegenüber widerstehen zu können. Die Antwort ist paradox in einem dialektischen Sinne.

Heute sind es nicht mehr die Musen, die uns Sprache und Stimme geben, sondern wir selbst sind es, die diese Aufgabe übernommen haben, aber auch die Verantwortung dafür. Wir selbst sind das Mass. Wie steht es geschrieben im Tempel des Apoll von Delphi: „Mensch erkenne dich selbst“.

Zum Schluss noch ein Rat von Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791)

„Den Himmel zu erringen,

ist etwas Herrliches und Erhabenes,                    

aber auch auf der lieben Erde

ist es unvergleichlich schön.

Darum lasst uns Menschen sein.“

Ganz aktuell aus den Nachrichten: soeben wurde gemeldet, dass das Gesundheitsproblem Nummer 1 in Japan die „Einsamkeit des einzelnen Menschen“ ist. Die Metropolregion Tokio hat 36,9 Mio. Einwohner. Dennoch herrscht Einsamkeit unter den Menschen. Oder gerade an dem Zuviel von Menschen entsteht hier Einsamkeit. Was fehlt denn da? Nämlich das Mass des Menschen, die Kunst des sozialen Zusammenlebens und der sozialen Verantwortung. 

*Die neun Musen:

Zeus zeugte mit Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung und des Gedenkens, die neun Musen:

Kalliope               die Schönstimmige, Muse der epischen Dichtung. Attribut: Wachstafel und Griffel

Melpomene      die Singende, Muse der tragischen Dichtung. Attribut: Maske

Thalia                    die Blühende, Muse der komischen Dichtung. Attribute: Maske

Euterpe               die Erfreuende, Muse der Lyrik -> Aulos. Attribut: (Röhre, Blasinstrument)

Terpsichore       die Reigenfrohe, Muse der Chorlyrik und Tanzes. Attribut: die Lyra

Erato                     die Liebevolle, Muse der Liebesdichtung, ohne Attribut

Polyhymnia        die hymnenreiche, Muse der Hymnendichtung, ohne Attribut

Klio                        die Rühmerin, Muse der Geschichtsschreibung. Attribut: Papyrusrolle und Griffel

Urania                  die Himmlische, Muse der Sternenkunde. Attribut: Globus mit Zeigestab