• Warum brauchen wir KUNST?

Warum brauchen wir KUNST?

Bevor wir die Frage beantworten, müssen wir sicher stellen, wovon und worüber wir reden.

Da ich Malerin bin, werde ich diese Frage vor allem aus meiner handwerklichen Perspektive heraus beantworten, das heißt aus dem Machen von Kunst.

Für Theoretiker, zum Beispiel Kunstphilosophen ist diese Frage jedoch der zentrale Bereich ihres Interesses. Der Unterschied der Kunstphilosophie zu der viel bekannteren Philosophie der Philosophen ist derjenige, dass die Philosophen nach Weisheit über das Leben (die Natur, das, was uns umgibt, das Gegebene) fragen, während die Kunstphilosophie sich mit dem befasst, was zum Werden eines Kunstwerkes gehört: was macht ein Kunstwerk zu einem Kunstwerk? Ich studiere jetzt seit vielen Jahren beides: die praktische Verwirklichung von Kunst und die Kunstphilosophie und habe immer noch das Gefühl, dass ich jeweils wieder an den Anfang zurück kehre, denn je mehr man weiß, desto mehr lernt man Fragen kennen, auf die man noch keine Antwort hat. Deshalb freue ich mich, mit Ihnen ausführlich darüber zu diskutieren.

Ein Kunstwerk ist wertfrei und ein offenes System von Symbolen, das jedem Betrachter für seine subjektiven Erlebnisse Raum lässt, es für sich selbst zu interpretieren und darin eine Bedeutung zu finden, die seinem eigenen Thema entspricht. Kunst hat keinen Zweck aber stets einen Sinn. Der einzige Zweck der Kunst ist ihre Zweckfreiheit.

Um über ein Kunstwerk zu diskutieren, um überhaupt über ein Kunstwerk diskutieren zu wollen, muss es uns gefallen. Das ist der erste Schritt. Ohne diesen wären wir nicht bereit, über Kunst zu sprechen. Wenn wir über Kunst sprechen, fällen wir ästhetische Urteile, ob wir wollen oder nicht, denn es geht um Fragen der Form. Formfragen zu stellen, sind wir nicht gewohnt. Und so wie ein Richter mit Hilfe von Gesetzen zu einem Urteil kommt, sollten auch ästhetische Urteile einem Regelwerk unterliegen, die man ästhetische Kategorien nennt. Wir müssen uns nicht darauf einigen, was ein Kunstwerk seinem Wesen nach ist, sondern vor allem darauf, wie man angemessen über Kunst spricht und wie man sich ihr nähert, um sie zu erleben. Ich arbeite mit den ästhetischen Kategorien, wie sie Immanuel Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" 1790 verständlich niedergeschrieben hat. Mit seinen Vorschlägen kann man arbeiten.

Es darf keine Dogmatik der Ästhetik geben, denn solche Absichten zerstören den ursprünglichen Sinn der Ästhetik. Mit anderen Worten: keine Dogmatik, sondern einen kategorialen Rahmen dafür, wie ein Kunstwerk aussehen könnte, sollte und dürfte, wenn es um die Beurteilung von Kunst geht, und wie ästhetische Urteile gefällt werden.

Es gehört zum Wesen des Kunstwerkes, dass es einen Sinn, aber keinen Zweck hat. Ein Kunstwerk wird weder für einen technischen Nutzen, für Brauchbarkeit, oder für einen wirtschaftlichen Vorteil, noch für eine didaktisch-pädagogische Unterweisung geschaffen. Es beabsichtigt nichts, sondern vermittelt. Es beabsichtigt nicht, die Wirklichkeit zu beherrschen, sondern das Wirkliche zu DEUTEN. Es hat keinen Willen, sondern ist.

Die Wirklichkeit der Kunst ist nicht, wie jede unmittelbar wahrgenommene Erscheinung, ein bloßer Ausschnitt des Wirklichen, sondern ein Ganzes mit einem Zentrum, um das sich alles Übrige im Raum versammelt; zugleich formt es sich so, dass sich seine Teile um ein Zentrum in sich selbst ordnen. So erscheint das, was in ihm (dem Bild) gezeigt wird, immer als ein ganzes Universum in sich selbst.

Kunst wird vom Menschen für Menschen gemacht, wenn er Kunstwerke schafft, und für den Rezipienten, wenn er künstlerisch schaut. Der Betrachter muss etwas wissen, sonst kann er nicht künstlerisch schauen, d.h. er muss offen sein für Farbe, Form und Bewegung - die wesentlichen Bestandteile eines Kunstwerkes. Das zusammengenommen nennen wir ein ästhetisches Gefühl. Das Kunstwerk muss also im Wahrnehmungsbereich des Bewusstseins des Betrachters liegen, d.h. dasjenige, was im Werk erkannt wird, ist alles vom Künstler selbst gemacht und muss sowohl materiell als auch geistig zur Schöpfung des Rezipienten führen, sonst kann das Werk nicht wahrgenommen werden. Deshalb kann es keine photographische Kunst geben, weil die Photographie sich an etwas hält, was es schon gibt, daher: sie hält sich an etwas, was vom Künstler selbst nicht gemacht ist.

Alles im Kunstwerk ist handgemacht, es gibt nichts technisch, mechanisches darin. Der Geist wird über die Sinne vermittelt. Wir können nur mit dem, was wir kennen, Beziehungen aufbauen. Und als Menschen haben wir keine Maschine in uns, sondern sind aus Materie und Geist gemacht. Künstliche Intelligenz kommt in uns nicht vor. Wie Einstein (1879 – 1955) bewies, hat Materie (Material) Geist. Wenn ich mit einem Pinsel und meinen Händen male, übertrage ich meinen Geist in das Werk, damit Sie es so finden können, wie es Ihre eigene subjektive Bestimmtheit Ihnen erlaubt. Das bedeutet, dass ein Kunstwerk von jedem anders gesehen wird. Das ist auch richtig, weil jeder Mensch ein subjektiver Mensch ist. Kunst ist eine nicht hintergehbare Ausdrucksform des einzelnen Menschen, so wie die Sprache oder der Gesang.

Zusammengefasst:

Wir brauchen Kriterien, um über Kunst zu sprechen:

  • Ein Kunstwerk besteht aus Farbe, Form und Bewegung. Es ist ein Raum, in dem wir selbst gern sein würden und uns dort mit unseren Sinnen bewegen
  • ein Kunstwerk ist IMMER zweckfrei
  • ein Kunstwerk ist offen für viele verschiedene Interpretationen
  • ein Kunstwerk wird ausschließlich von Menschen geschaffen
  • ein Kunstwerk muss gefallen, sonst würde sich niemand mit ihm in Beziehung setzen wollen
  • ein Kunstwerk ist immer die sinnliche Präsenz des Vollkommenen (= Schönheit). Durch die Realisierung des Schönen in Schönheit ist Kunst das einzige Ausdrucksmittel, dem Hässlichen etwas Substanzielles entgegen zu setzten. Ein Kunstwerk gibt stets auch dem Hässlichen eine Kunstform. Nicht um es zu verdrängen, sondern sich mit ihm künstlerisch auseinander zu setzten und dadurch eine Möglichkeit zu haben, ihm etwas entgegen zu setzen.
  • ein Kunstwerk ist ein vollständiges Universum in sich selbst und verweist auf nichts außerhalb seiner selbst (das ist die ästhetische Kategorie der Selbstreferenzialität)
  • ein Kunstwerk ist anders als die Realität. Es negiert das Faktische und zeigt das Mögliche
  • ein Kunstwerk kommuniziert mit dem Betrachter und lässt dem Betrachter Raum, sich selbst in ihm zu sehen
  • ein Kunstwerk enthält Wahrheiten. Wir nennen es „das gewisse Etwas“. Und dieses „gewisse Etwas“ hat den Anschein des Bekannten.
  • ein Kunstwerk kann zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedlichster Weise interpretiert und erlebt werden (das ist die ästhetische Kategorie der Historizität)

Nachdem wir nun also festgestellt haben, was ein Kunstwerk sein könnte, müssen wir herausfinden, warum wir es brauchen.

Wir brauchen etwas, dass uns über den Alltag, das sogenannte Alltägliche, hinausführt. Das Alltägliche ist hässlich. Die Kunst hilft uns, es zu ertragen. Wir schauen uns gerne einen Sonnenuntergang an, weil er schön ist und uns bewusst oder unbewusst daran erinnert, dass die Idee im Menschen von Schönheit und Unendlichkeit geprägt ist.  

Die Betrachtung von Kunstwerken hilft uns zu verstehen, dass es mehr auf der Welt gibt als nur uns selbst und unsere Sorgen. Es zeigt uns andere Wege des Seins, des Sehens, neue Ideen, die wir vorher vielleicht nicht hatten.

Der deutsche Philosoph Martin Heidegger (1889 - 1976) sagte: "Große Kunst öffnet uns die Augen für das, was wir vorher nicht sehen konnten, kleine Kunst verändert nur die Formen dessen, was ist". Die große Kunst ist immer Realisierung einer neuen Form und die kleine Kunst ist nur Formwandel von Formen, die es schon gibt. Genau das meint Heidegger. Kunst zielt nie auf Originalität, sondern arbeitete stets an dem weiter, was immer gut war, um es zu steigern. Wobei steigern nicht verkomplizieren heißt, sondern Steigerung heißt immer zurück zu den Quellen zu gehen. Also eher eine Vereinfachung. Neues und Fortschritt ist in der Kunst nicht messbar. Das ist Sache der Wissenschaft.

Als Menschen atmen wir ein und aus. Das schafft Platz, Raum in unserem Körper. Wir haben einen menschlichen Körper und einen geistigen Raum - unsere innere Realität. Wir befinden uns in einem ständigen Austausch zwischen Körper und Seele, innerem und äußerem Raum, Geist und Materie, unserer Welt und der großen Welt. Das alles hat mit Raum zu tun. Wo bin ich? Wer bin ich? Warum bin ich so, wie ich bin?

Max Beckmann sagte: "Der Raum ist der Palast der Götter, die Zeit ist die Erfindung der Menschen."

"Ein Kunstwerk ist die zweckfreie Erscheinung eines Raumes, in dem der Kunst wahrnehmenwollende Betrachter selbst gerne sein möchte" (Martin Rabe).

Der Betrachter befindet sich im Bild - und erfindet somit das Werk jedes Mal neu. Der Betrachter wird buchstäblich von einem Kunstwerk ergriffen, weil es eine Erweiterung und Verlängerung der Alltagswelt ist, in der er lebt. Das Gemälde ist in ihm lebendig und erfüllt ihn geistig. Ein vollkommenes Universum in unserem chaotischen Universum. Es ordnet und bringt Sinn in unsere Welt. Es ist politisch, emanzipatorisch, indem es uns zeigt, dass es etwas gibt, das mehr ist als wir selbst. So können wir uns durch das Betrachten von Kunst öffnen für das Andere, in welchem wir uns selbst wiederfinden.  

In seinem Buch (L'art qui guérit: Kunst, die heilt) erklärt der französische Neurowissenschaftler Pierre Lemarquis, dass wir eine "Medizin brauchen, die ein bisschen künstlerisch ist". Die Wirkung von Kunst auf das Gehirn wird seit vielen Jahren erforscht. Ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2019, der sich auf Erkenntnisse aus über 3000 Studien stützt, sieht "eine wichtige Rolle für die Kunst" bei der Prävention von Krankheiten. Im Jahr 2018 machten Ärzte im kanadischen Montreal Schlagzeilen, als sie begannen, Patienten, die an bestimmten Krankheiten litten, Museumsbesuche im Montreal Museum of Fine Arts zu verschreiben. Jess Bone, Forschungsstipendiatin für Epidemiologie und Statistik am University College London, hat zusammen mit Kollegen umfangreiche Forschungen zu Kunst und Wohlbefinden durchgeführt. "Ich glaube, die Menschen sind sich im Großen und Ganzen darüber im Klaren, dass die Beschäftigung mit Kunst einige Vorteile mit sich bringt, aber ich denke, sie bedenken nicht immer, wie weitreichend die Auswirkungen sein könnten", sagte sie gegenüber Artnet News.

Die Liste der Bereiche, die durch Kunsterleben verbessert oder gemildert werden können, ist atemberaubend: "Lebenszufriedenheit, Lebenssinn, positive und negative Auswirkungen, Wohlbefinden, Einsamkeit, soziale Unterstützung, Selbstwertgefühl, Depression, kognitiver Verfall, Demenz, andere Gesundheitsverhaltensweisen, Anpassung an die Kindheit, Emotionsregulierung, chronische Schmerzen, Gebrechlichkeit und vorzeitige Sterblichkeit", so Bone. (Artnet News, 26. April 2022)

Es gibt neue Hinweise darauf, dass Kunst- und Kulturengagement die Wahrscheinlichkeit von Depressionen verringern kann. Dies geht aus einer systematischen Überprüfung von sechs Studien aus dem Jahr 2020 hervor, an denen insgesamt etwa 50.000 Personen teilgenommen haben. Es wurde auch festgestellt, dass Jugendliche, die an außerschulischen Kunstprogrammen teilnahmen, tendenziell besser abschnitten als diejenigen, die dies nicht taten.

Eine Studie aus dem Jahr 2013, die sich mit Künstlern befasste, ergab, dass europäische Künstler zwar tendenziell unterbeschäftigt, unterbezahlt und deprimiert sind, aber im Durchschnitt eine höhere Arbeitszufriedenheit aufweisen als Nicht-Künstler!

Zurück zu Lemarquis, der auch Präsident einer neuen französischen Vereinigung namens "L'invitation à la beauté" ist, die Patienten "kulturelle Rezepte" anbietet, darunter auch die Besichtigung von Kunstwerken. Die von der UNESCO unterstützte Organisation hat eine Kunstsammlung mit Originalwerken zusammengestellt, die sie den Patienten für ihre Zimmer im französischen Krankenhaus Lyon Sud zur Verfügung stellt, und dieses Programm soll ausgebaut werden.

Was intuitiv erscheinen mag, aber in „Kunst die heilt“ wissenschaftlich belegt ist, ist die Tatsache, dass Kunst jeglicher Art auf unser Gehirn in vielfältiger, dynamischer Weise einwirkt und dass sich neuronale Netze bilden, die eine erhöhte, komplexe Konnektivität aufweisen. Mit anderen Worten: Kunst kann unsere Gehirne "formen" und sogar "streicheln".  Wenn wir also sagen, dass uns ein Kunstwerk bewegt, dann ist das tatsächlich der Fall.

Lemarquis sagt, dass ein "unvollendeter" Aspekt des Werks - die Berührung durch den Schöpfer - dem Betrachter hilft, ein Gefühl für seine eigene Beteiligung zu bekommen. In ähnlicher Weise hat die Wissenschaft gezeigt, dass wir bei Kunstwerken, die auf einem Bildschirm wiedergegeben werden, eine "Distanz" empfinden, verglichen mit der physischen Anwesenheit des Werks.

"Unser Gehirn nimmt viel mehr Informationen auf, als uns bewusst ist", sagt er. Wenn wir zum Beispiel ein Kunstwerk persönlich wahrnehmen, wird das Gehirn "erleuchtet, so etwa wie durch das Strahlen einer Lampe". Wenn jedoch der Grad der Exposition gegenüber dem Werk "abgeschwächt" wird, wie es bei einem Bild auf dem Bildschirm der Fall ist, gehen seiner Meinung nach "Mengen an Informationen und folglich mögliche (neurologische) Wechselwirkungen" verloren.

"Man behandelt nicht eine Krankheit, sondern eine Person", sagt Lemarquis. "Man braucht eine rein wissenschaftliche Medizin, die sich mit der Krankheit befasst, und eine etwas künstlerische Medizin, die sich mit der Person, ihrer Menschlichkeit befasst. Die beiden ergänzen sich. Die Menschen müssen träumen. Sie brauchen Fantasie."
(Im Interview mit Devorah Lauter, 2. März 2021)

Vor kurzem habe ich bei Angharad Wynne einen Kurs im Geschichtenerzählen begonnen, weil ich es faszinierend fand, dass das Erzählen von Geschichten dem Schaffen eines Kunstwerks sehr ähnlich ist. Beide sind von Natur aus menschengemacht. Beide entwickeln sich weiter. Beide verändern sich mit jedem Erzählen - ich kann nicht zweimal dasselbe Bild malen, so wie ich nicht zweimal dieselbe Geschichte erzählen kann. Beide werden von ihrem Publikum unterschiedlich gehört/gesehen. Niemand hört genau dieselbe Geschichte, denn jeder hat eine andere innere Landschaft. Niemand sieht das gleiche Bild aus dem gleichen Grund. Beide sind von Menschen gemacht. Beide können unterschiedlich interpretiert werden und sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln.

"Geschichten tragen die Geister aller Geschichtenerzähler in sich, vom ersten Geschichtenerzähler, der sie erzählt und weitergegeben hat, bis zu der Person, die sie Ihnen erzählt hat oder die Version in das Buch geschrieben hat, in dem Sie die Geschichte gefunden haben. Bei jeder Neuerzählung fügte jeder Geschichtenerzähler etwas von sich selbst hinzu, seine eigene Erfahrung mit der Welt oder seine Sicht der Dinge.

Geschichten sind also zutiefst reich an Menschlichkeit. Sie sind Gefäße für das Verständnis des menschlichen Zustands, aber auch Weisheit darüber, wie man das Leben meistert oder nicht meistert, und voller subtiler Hinweise, wie man in Harmonie und Gleichgewicht mit der gesamten Schöpfung leben kann. Es ist daher nicht überraschend, dass Geschichten uns zutiefst von unserer eigenen Reise und Erfahrung in dieser Welt erzählen können.“  Angharad Wynne, 2023

 

Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir uns wieder auf unser menschliches Wesen besinnen und unsere gemeinsame Menschlichkeit feiern müssen. In einem Zeitalter, in dem Kinder mit Tablett-Computern statt mit Notizbücher zur Schule gehen, in dem wir versuchen, mit dem Verkauf von NFTs Geld zu verdienen, in dem Kommunikation per E-Mail und Whatsapp stattfindet und in dem Bilder ständig von der KI bearbeitet werden, um sie perfekter, und damit unmenschlicher zu machen. Die Menschen sind nicht perfekt. Sie sind ein sich ständig fortentwickelndes geistiges Wesen.

 

Wir müssen unser menschliches Wesen feiern, das uns vor das Tierreich stellt. Ich meine das nicht im Sinne einer Überlegenheit, sondern im Sinne eines UNTERSCHIEDS. Sie können nach Hause gehen und über diesen Aufsatz nachdenken. Sie können reflektieren. Ein paar Tage später können Sie dann über das Reflektierte noch einmal reflektieren, und vielleicht Ihre Meinung ändern. Wenn wir die Kunst betrachten, kann ich mit einem Kunstwerk ein einzigartiges Universum erschaffen, das lebendig wird, wenn man es ansieht. Was der Kreator, der Schöpfer, im Unendlichen erschaffen hat und immer wieder neu erschafft, vollzeiht der Künstler in seinem Werk in einer endlichen Form. Das erstaunliche Ergebnis ist, dass die endliche Form Unendlichkeit wiederspiegelt. Es von meinem menschlichen Geist durchdrungen, den Sie erkennen, weil wir eine gemeinsame Menschlichkeit teilen. Jeder Mensch ist auch die Menschheit und die Menschheit ist jeder Mensch. Als Menschen leben wir ständige Entwicklung unserer Selbst. Wir sind nie etwas Gewordenes, sondern stets etwas Werdendes. Wir sind in Bewegung. Das Perfekte ist fertig und damit leblos. Ich erfahre dieses wenn ich ein Bild übermale und versuche, es besser und perfekter zu machen. Irgendwann kippt das Gleichgewicht und das Bild ist tot. Es muss Raum für den Betrachter lassen, damit er in das Bild eintreten kann. Wir brauchen nicht das Perfekte, sondern das menschlich Unvollkommene. Darin erkennen wir uns wieder und öffnet unsere Gefühle.

Wir müssen in der Lage sein, in die Schönheit einzutauchen, eine Reise in unsere Vorstellungskraft zu genießen, die erstaunlichen Dinge zu feiern, zu denen wir Menschen fähig sind, und den unglaublichen Planeten zu feiern, auf den wir gesetzt wurden.

Das Schöne ist etwas Übernatürliches, welches sich zur Schönheit ständig neu entwirft. Sie ist nicht etwas Feststehendes, sondern etwas, das immer unsere Sinne in Bewegung hält. Eine Ästhetik des Prozesses des Schönwerdens, diese Ästhetik ist noch nicht geschrieben worden. Goethe (1749 - 1832) sagt, "der Prozess des Werdens" sei das Wichtige, das "Gewordene" sei tot.  Der Neurobiologe Semir Zeki sagt: "(Der Mensch) kann nur dann einen Begriff von Schönheit bilden, wenn er sich ernsthaft mit Kunst beschäftigt".

Er hat herausgefunden, dass Schönheit ein einheitlicher Begriff ist, der mit der Aktivität eines ganz bestimmten Teils des Gehirns verbunden ist: "Diese Schönheit, egal welcher Art, löst immer die gleiche Erregung im Gehirn aus... Je stärker die ästhetische Erfahrung ist, desto mehr wird das A1-Zentrum erregt. So können wir die Erfahrung von Schönheit messen... Wann immer man Schönheit empfindet, beeinflusst diese Erfahrung einen großen Teil des emotionalen Gehirns... In hässlichen Räumen neigen Menschen dazu, sich asozial zu verhalten. Die Bedeutung der Schönheit wurde von Architekten, die Sozialwohnungen entworfen haben, lange Zeit übersehen."

Nun haben wir gerade festgestellt, dass es erwiesen ist, dass Schönheit für uns Menschen lebensnotwendig ist.

"Die Kunst gibt einem viel zu denken; aber ohne dass ein bestimmter Gedanke, d.h. Begriff, hinreichend ist, kann sie folglich durch die Sprache nicht vollständig erreicht und begreiflich gemacht werden." Immanuel Kant.

Einige andere Studien, auf die ich kürzlich im Newsletter von Ingrid Fetel Lee aufmerksam wurde (ich empfehle ihr Buch "Joyful", das sich mit Freude und Farbe beschäftigt)

  • Farbe steigert Energie und Stimmung. In einer Studie, die in vier Ländern durchgeführt wurde, fanden Forscher heraus, dass Menschen, die in einer farbenfrohen Umgebung arbeiten, wacher, zuversichtlicher, freundlicher und fröhlicher sind als diejenigen, die in tristen Räumen arbeiten.

          (2006 Nov 15;49(14):1496-507. doi: 10.1080/00140130600858142.
          Der Einfluss von Licht und Farbe auf die psychologische Stimmung: eine           
          kulturübergreifende Studie über Arbeitsumgebungen in Innenräumen Rikard Küller 1, Seifeddin Ballal, Thorbjörn Laike, Byron Mikellides, Graciela Tonello)

  • Farbe kann dazu beitragen, dass man weniger Fehler macht. Wir denken oft, dass wir uns in einem neutralen Raum besser konzentrieren können, aber die Forschung zeigt etwas anderes. Forscher in der Türkei setzten Probanden entweder in einen grauen Raum oder in einen Raum mit farbigen Wänden und gaben ihnen eine Reihe von Korrekturlese- und Problemlösungsaufgaben. In dem Raum mit Farbe machten die Teilnehmer deutlich weniger Fehler.

    (2006 Nov 15;49(14):1496-507. doi: 10.1080/00140130600858142.
    Der Einfluss von Licht und Farbe auf die psychologische Stimmung: eine kulturübergreifende Studie über Arbeitsumgebungen in Innenräumen
    Rikard Küller 1, Seifeddin Ballal, Thorbjörn Laike, Byron Mikellides, Graciela Tonello)

  • Farbe erhöht das Vertrauen in andere. In dieser Studie ließen die Forscher Personen entweder in der Nähe eines regenbogenfarbenen Zebrastreifens oder eines normalen schwarz-weißen Zebrastreifens stehen und fragten: "Wenn Sie Ihre Brieftasche hier fallen lassen würden, wie wahrscheinlich ist es, dass Sie sie zurückbekommen würden?" Die Befragten waren eher der Meinung, dass sie ihre Brieftasche in der Nähe des Regenbogenüberwegs zurückbekommen würden, was darauf hindeutet, dass die Farben ihr Vertrauen in Fremde stärken.
    (Mit Regenbogenfarben bemalte Fußgängerüberwege können das Vertrauen zwischen Fremden stärken. A reminder that we're all in this together von Charles Montgomery, veröffentlicht am 21. August 2017)

 

Ich hoffe, ich konnte darstellen oder zumindest einen Denkanstoß geben, warum Kunst für uns Menschen von so großer Bedeutung ist. Sie ist die menschlichste Form des Ausdrucks, die wir haben. Warum brauchen wir sie, wenn wir Schönheit in der Natur haben? Weil wir etwas brauchen, das über die Natur hinausweist. Wir brauchen mehr als die Natur, denn wir sind auch mehr als die Natur. Weil wir in unserer geistigen Personalität der Natur vorausgehen und die Natur als Natur samt ihren Gesetzen bezeichnen und kennzeichnen. Was Natur ist bestimmt der Mensch. Ob wir wirklich damit „die Natur“ richtig treffen, werden wir nie wissen.

 

©Sibylle Laubscher

Image "in the Cafe" ©Sibylle Laubscher, 2023, handbrunished linocut print