• Über das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft | Teil III

Über das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft | Teil III

Es ist erfreulich, der lebhaften Nachfrage nach Fortsetzung meiner Überlegungen folgen zu dürfen, wie mittels der Künste, beziehungsweise der Wiederbelebung der Lehren in den Kunstakademien entscheidende Versuche gemacht werden könnten, uns Menschen vor der selbsterzeugten Klimakatastrophe eine Chance zu geben. Dem liegt die Beobachtung zu Grunde, auf die ich bereits hinwies, dass beinahe sämtliche Probleme des gesellschaftlichen Lebens, vor die wir uns gegenwärtig gestellt sehen, reine Formprobleme, bzw. Formbildungsprobleme sind. Um hier weiter zu kommen, müssen wir Fähigkeiten der Formerkenntnis und der Formbildung erüben, in denen es vorrangig um das „WIE“ einer Sache geht, also mehr der Form als dem „WAS“, ihrem Inhalt. Kurz: die Form ist wichtiger als der Inhalt einer Sache.

Diese Feststellung ist vielleicht kaum nachvollziehbar, weil ihr etwas ungewohntes anhaftet. Hierzu möchte ich daran erinnern, wie ich bereits ausführlich zu erklären versuchte, dass wir eines „neuen Denkens“ bedürfen, also Ungewohntes auf uns zukommt. Natürlich tritt da sofort die Frage auf: was ist eigentlich Denken? Derjenige, welcher darauf die bis heute gültige Antwort gab, war der griechische Vorsokratiker Parmenides von Elea (gestorben ca. 5. Jah. v. Chr.), einer der bedeutenden Naturphilosophen. Leider kann ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, da ich eine philosophische Debatte eröffnen würde, die mich von meinem Thema weit weg führt. Dennoch werde ich mich im weiteren Verlaufe zum Vorgang des Denkens äußern müssen.

Über neues Denken zu reflektieren ist in jedem Fall deshalb nicht leicht, weil gewohntes altes Denken verlassen werden muss und dadurch naturgemäß Orientierungslosigkeit auftritt. Insofern bedarf es eines gewissen Mutes zum Neuen, sich dem Ungewohnten zu stellen. Dazu möchte ich meine Leser herzlich ermuntern.

 

Der Theologe, Philosoph und Begründer der Geisteswissenschaften als eigenständige Disziplin, Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) sprach in seinen ausgedehnten kulturhistorischen Studien immer wieder von „Form gewordenen Lebensäußerungen der Menschen“ und gab damit vielleicht die am weitest gehende Antwort auf die Frage, „Was Kultur sei?“ Damit wies er auf die zentrale Bedeutung von Formen hin und zwar ganz gleich welche art, denn Kultur umfasst alles, eben nicht nur Kunst. Auch das erklärte ich bereits früher ausführlich.

Ausgangspunkt zu einem Formbildungsprozess ist immer eine sogenannte „Weltanschauung“ der Menschen. Hierauf werde ich später bezüglich ihrer historischen Entwicklung ebenfalls genauer eingehen.

Eine Weltanschauung bildet sich, wie der Begriff schon erahnen lässt, zunächst aus dem „Weltbild“ eines jeden Einzelnen. Dieses Weltbild fügt sich aus inneren und äußeren Erlebnissen des einzelnen Subjektes zusammen, welche in ihm, seinem Bezug zur Welt und den in ihr lebenden und wirkenden Menschen aufsteigen. Daraus erscheint ihm ein Bild der Welt. Es handelt sich um einen rein bildnerischen Prozess, welcher durch nichts gestört werden darf in seiner absoluten Subjektivität und Freiheit. Vor allem diesem Bilderleben vorauseilende und dadurch störend wirkende Begriffe und Begrifflichkeiten dürfen das innerliche schöpferische Bildgeschehen nicht abschneiden. Dieses Weltbild ist ein Bilderleben in Bewegung und damit als Form noch unfertig. Es ist eine Idee über die Welt und ihren Erscheinungen. Erst dadurch, dass der Einzelne sein Erleben und Erkennen als Idee in Bezug und Zusammenleben mit anderen Menschen ordnet, entsteht eine haltbare Form, welche wirkungsmächtig ist und auf einen erkannten Sinn zielt. Daraus, und nur daraus, entsteht so eine wahre „Weltanschauung“, welche dann über das rein Subjektive hinaus höhere Werte und Prinzipien als Handlungsideale innerhalb einer Gesellschaft möglich macht.  

Ich möchte ausdrücklich auf zwei wesentliche Punkte nochmals hinweisen:

  • dass Weltbild (Idee) und Weltanschauung (Form) völlig unterschiedlich sind und deshalb nie dasselbe bedeuten;
  • dass eine dem Menschen dienliche Weltanschauung ihren Ursprung in freien Subjekten hat und nichts mit Religionen verbindet.

Ein unbestimmtes, jedoch zielgerichtet wirkendes Kraftgefühl im Menschen, dass diese und keine andere Formung einer Sache, um die es geht, gelten lassen will, erweist sich als ein Angezogensein von einem geahnten Sinn, welcher dieser und keiner anderen Formung bedarf. Eine solche Form bezieht den Gegenstand auf den Sinn. Sie erweist sich als Brücke zwischen Gegenstand und Sinn. Das ist der zentrale Kern eines jeden Kunstschaffens.

Das mag alles sehr schwer verständlich klingen, jedoch nur deshalb, weil hier neues Denken versucht wird. Neu an diesem Denken ist beispielsweise, dass wir, wenn überhaupt, ganz selten darüber nachdenken: was eine Form ist? Wir sagten: eine Brücke zwischen Gegenstand und Sinn. Diese These versteht vielleicht niemand, obwohl sie gar nicht schwierig ist. Beispiel: die Form ist ein Kleiderschrank (= Gegenstand), sein Sinn ist, darin Kleidung aufzubewahren. Die Form verbindet beides, Gegenstand und Sinn, nämlich Kleiderschrank und Aufbewahrung. So einfach ist das!

 

 

Die Fähigkeit zu Formbildung, diesen Weg willentlich in Freiheit beschreiten zu können, ist nicht einfach und bedarf einer Ausbildung, beziehungsweise einer Lehre und eines Übungsfeldes, zum Beispiel in Kunstakademien.

Auf die Schwierigkeit der Formerkentniss weißt Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832) in seiner Abhandlung: „Maximen und Reflexionen. Aus Kunst und Altertum,“ 1826, hin.

                „Den Stoff sieht jedermann vor sich,

                Den Gehalt nur der, der etwas dazu zu tun hat,

                Und DIE FORM BLEIBT EIN GEHEIMNIS DEN MEISTEN.“

Versuchen wir diesen Hinweis Goethes zu verstehen:

„Der Stoff“ repräsentiert das Wirkliche, dem jedermann gegenüber steht und den er vor sich hat.

Um den „Gehalt“ zu erfassen, muss etwas hinzugefügt werden: eine „Idee“, Öffnung über den Stoff, denn wenn ich keine Ideen über das Wirkliche (den Stoff) habe, kann ich auch über nichts nachdenken (das digitale Zeitalter lässt grüßen).

Genauer erklärt: Realität (= Gehalt) entsteht für den Menschen erst dann, wenn er den Erscheinungen des Wirklichen etwas hinzufügt. Er muss sich selbst, wörtlich verstanden, in das Wirkliche einbringen (reflektieren). Daraus entsteht ein Prozess der Formbildung, die deshalb tendenziell ein Geheimnis bleibt (genau das meint Goethe), weil dieses sich Einbringen die Angelegenheit eines jedem ist und innere Arbeit verlangt. Es bedarf der Mühe, welche der eigenen Bequemlichkeit wegen meistens unterbleibt. In der Regel reicht es uns nämlich, wenn wir jeweils wissen, „WAS der Fall“ ist. Jedoch fragen wir selten „WIE etwas der Fall ist!“ Wir fragen nicht weiter, denn das ist anstrengend. So bleiben wir im Halbwissen stecken. Doch mit Halbwissen können wir aus dem Wirklichen keine vor allem gültigen eigenen Wirklichkeiten bilden. Das Wirkliche ist einmalig und unendlich, und auch chaotisch. Wirklichkeiten entstehen aus Weltanschauungen von freien Menschen, die in der Lage sind, eigene Formen zu bilden. Deshalb haben wir es immer mit vielen Wirklichkeiten zu tun. Hier liegt übrigens auch der Grund, warum Diktatoren Herrschaft und Macht ausüben wollen vorrangig über den Geist und den Handlung der Künstler. Weil sie es sind, die in Freiheit aus ihre Schaffenskraft und Fantasie entwickeln.

 

Ich hatte anfangs erwähnt, etwas zur historischen Entwicklung von „Weltanschauung“ zu erklären. Dazu müssen wir zunächst in eine Zeit zurück gehen, in welcher der Gedanke nach einem Weltbild und daran anschließend einer Weltanschauung durch den Menschen noch gar nicht existierte, sondern ganz im Gegenteil, die nachtodliche Welt und eines dort stattfindenden realen Lebens das Bewusstsein der Menschen bestimmte. Weltabgewandtheit prägte dieses Wirkliche. Es war die Zeit der Mesopotamischen und Ägyptischen Hochkulturen. Eine Epoche von ca. 4000 Jahren vor Christus. Was in diesen alten Kulturen als Keim entstand, wurde später in Europa gedanklich durchdrungen, rational entwickelt und einer frühen Vollendung durch die Griechen entgegen geführt. Den antiken und orientalischen Traditionen schließt sich mit dem Christentum eine weitere Linie an. Im Zuge dessen entsteht das Bild von einem eigenständigen Osten und einem eigenständigen Westen. Dieses Spannungsfeld des West- und Ost-Römischen Reiches bildet die Vorgeschichte der europäischen Kultur. Ein besonderer Hinweis: Europas Wurzeln liegen also nicht in Europa selbst, sondern in Mesopotamien und Ägypten.

Wir befinden uns heute in den Jahren 2000 nach Christus und müssen selbstverständlich davon ausgehen, dass zahlreiche Übernahmen aus den länger währenden alten Kulturen auch bei uns heute noch stark wirksam sind, vor allem im Christentum. Nur ein Beispiel möchte ich anführen: Es ist die Abbildung „Isis mit ihrem Sohn Horus auf dem Schoss“ ca. 800 vor Christus, 48,9cm hoch, welche vorbildhaft für die Darstellungen „Maria mit dem Jesus Knaben“ des Christentums angesehen werden kann.

Isis mit Kind
Isis mit Kind, Bronze, 48.9cm hoch, 800-700 v. Chr.

Seit dem 6. Jahrhundert vor Christus scheint so etwas wie ein neuer Einschlag des Geistes in den großen Kulturen der damals bekannten Welt gleichzeitig zu wirken. Das entdeckten bereits Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem französische Philosophen. Der Deutsche Philosoph, Karl Jaspers (1883 - 1969) prägte für dieses Phänomen den Begriff der „Achsenzeit“ in seinem Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ (1949). Es wurden religiöse und philosophische Ansätze geschaffen, die ein Schritt ins Universale oder in die „Vergeistigung“ (Jaspers) bewirkten, die eine Veränderung des gesamten Menschseins nach sich zog. So entstanden Grundkategorien, in denen die Menschen noch heute denken: „Achse der Weltgeschichte, um die sich alles dreht“ (Jaspers) und deren Verlauf in „vorher“ und „nachher“ teilt.

In China waren es die Lehren des Konfuzius und Laotse; in Indien diejenigen des Buddha; in Persien Zaratrustha; im Orient die biblischen Propheten Haggar, Sacharja und Esra, und im Abendland die vorsokratischen Naturphilosophen, z. B. Parmenides und nach ihnen Pythagoras, Sokrates, Platon, Aristoteles und viele andre.

Diese Denker bildeten eine neue geistige Gerichtetheit aus in Form einer „Weltzugewandtheit“! Sie trieben ihre Geisteskräfte an das Wirkliche, der „Gaia“, der Mutter Erde heran und versuchten aus dem Zusammentreffen Erkenntnisse zu gewinnen. So entstand das Wechselverhältnis von Mensch und Welt auf der Grundlage einer Art von Wahrnehmungstechnik, welche sie „Aisthesis“ nannten. Daraus wurde Jahrhunderte später die Vorstellung von einer „Ästhetik“, deren erste wissenschaftliche Zusammenfassung Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 - 1762) in seinem Werk „Ästhetica“ in lateinischer Sprache abfasste.

Auf einen Sonderweg innerhalb der griechischen Entwicklung muss an dieser Stelle aufmerksam gemacht werden: es handelt sich um die Entwicklung der Vorstellung von Freiheit, welche sich in der Polis von Athen wie sonst nirgendwo in der damals bekannten Welt formte und „den Grund allen abendländischen Freiheitsbewusstseins, sowohl in der realen Wirklichkeit der Freiheit, wie auch im Denken“ legte (Jaspers, S. 88), und zwar bis heute!

(Polis = eine Gemeinschaft von mehreren 1000 Bürgern in einer Stadt mit Selbstverwaltung. Die Geburtsstätte der Demokratie.)

In China und Indien beispielsweise wurde in diesem politischen Verständniss nie Freiheit entwickelt.

Die Griechen formten das Abendland als eine geistige Kategorie von Freiheit. Dieser Freiheit gaben sie eine Gestalt IN FORM der Demokratie: jeder Bürger hat eine Stimme! Es ist eine Weltanschauung ganz in Bezug auf das Verhältnis von Mensch und Lebenswirklichkeit.

 

Im Heiligtum von Delphi fordert der Gott Apoll den Menschen auf: „Erkenne dich selbst!“ Eine Formfrage! Der Philosoph Protagoras (490 v. Christus) bestimmt: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind, der Nichtseienden, dass sie nicht sind.“ Mit diesem in die Philosophiegeschichte eigegangenen „Homo Mensura Satz“ wird das Subjekt zum bestimmenden Maß aller Formbildungsprozesse. Die Erscheinung des Schönen repräsentiert durch den Menschen sah man als vorbildlich an für die Realisierung von Schönheit. Der Bildhauer Polyklet (um 480 v. Christus) entwarf eine Musterfigur, einen „Kanon“ (= Regelwerk), nach dem Statuen in Vollendung geschaffen wurden und bis in die Neuzeit fester Bestandteil der Lehre in den europäischen Kunstakademien blieb.

Ephebe
Ephebe (= Rekrut) Athen. Nat.-Museum, Stele des Panaitios, Attisch 2. H. 5. Jh. V. Chr. Bildarchiv Foto Marburg

Erwähnenswert: der Zeit der „Weltabgewandtheit“ der Menschen (Messopotamischer und Ägyptischer Kulturen, 4000 Jahre) stehen heute erst 2000 Jahre „Weltzugewandtheit“ gegenüber. Wir haben viel länger nach Innen geschaut als nach Aussen. Daraus entwickelte sich später im Kunstschaffen das spannungsreiche Verhältnis von Innenraum und Aussenraum künstlerisch zu erfassen, so wie wir ein- und ausatmen.

Nach diesem Exkurs in die Entstehungsgeschichte des DENKENS IN FORMEN, knüpfe ich wieder an die Ausführungen über die Notwendigkeit der Formfindung heute an und ihrer Wurzelfrage: WIE etwas ist und diese „Wie-Frage“ nicht zu unterlassen, sondern im Gegenteil, sie in ihrer Bedeutung über die Frage nach dem „WAS“, des Inhaltes zu stellen. Das WIE erfasst immer das Formganze. Einzelfakten (= Inhalte) werden erst vom und im FORMGANZEN verständlich und sogar je nach Stellung des Formganzen können die Fakten auch wechselnden Sinnsetzungen unterworfen sein. Vielleicht einfacher ausgedrückt: wir müssen stets vom Ganzen (= der Form) zum Detail schreiten, um etwas erleben und auch ganz verstehen zu können, und nicht versuchen, vom Detail (den Fakten) zum Ganzen gehen zu wollen, denn das Ganze ist in seiner Wirkungsmacht mehr als die Summe seiner Teile. Ganzheitlichkeit, von der so viel heute geredet wird, ist demnach nie das Ziel unseres Bemühens, sondern steht immer am Anfang unseres Bemühens. Von ihr, der Ganzheit, müssen wir eine Vorstellung, eine Idee, eine Überzeugung haben, um danach von dort aus voranzuschreiten zu dem, was uns bedeutsam erscheint. Dazu müssen wir uns zu Meistern der Form und der Formbildung erziehen, und das kann ausschließlich nur in einer künstlerischen Bildung und Ausbildung geschehen und niemals in einer naturwissenschaftlichen- oder geisteswissenschaftliche-Bildung und Ausbildung.

Diesen Umstand drückt Goethe in zwei Sätzen aus:

                „Die Wissenschaft hat das Theorem, die Kunst hat das Problem.“ (Quelle s. o.)

Und das Problem ist, der Mensch und sein Leben in einer realen Welt, in der er Lebensformen und Überlebensformen entwickeln muss.

Der Maler Max Beckmann (1884 - 1950) drückt für sich diese Lage mit folgenden Worten aus, anlässlich eines Vortrages: „Über meine Malerei“, in London 1938:

„Es handelt sich für mich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen, und diese Realität in Malerei zu übersetzten. Das Unsichtbare sichtbar machen durch die Realität. Das mag vielleicht paradox klingen, es ist aber wirklich die Realität, die das eigentliche Mysterium des Daseins bildet.“

Beckmann zeigt uns in seinen Bildern häufig die von Menschen gemachten Grausamkeiten in dieser Welt und um sie erträglich erscheinen zu lassen, führt er sie in Theater- und Zirkusszenen vor, oder in der Welt der Mythen. Er vollzieht genau dasjenige was Goethe fordert, dem Gehalt etwas hinzuzufügen, wenn er einen Gehalt finden will. Bei Beckmann sind es die Mythen und die Welt des Zirkus und Theaters.

„Die Wahrheit ist hässlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.“
(Friedrich Nietzsche (1844 - 1900); nachgelassene Fragmente 1887 – 1889)

Nietzsche meinte sicherlich nicht, dass die Kunst uns dienen sollte als eine Leugnung der Wahrheit über unsere Existenz, sondern als Weg zur einer heilsameren Lebenswirklichkeit. Er appelliert an die Formbildungskraft der Menschen durch Kunst. So etwas hört man heute nie mehr!

 

Versuchte ich in meiner kurzen historischen Skizzierung zu erklären, wie es im antiken Griechenland zu dem Wunsch der Menschen nach einer Anschauung ihrer Welt kam und dieses Bemühen die Werke vor allem der Bildhauer prägte, so möchte ich nun die Frage stellen, was denn anschließend das Bemühen, bzw. das Bewusstsein der Künstler prägte. Wer oder was wurde danach deren Inspirator? Es waren die Offenbarungen der Bibel, die ein christlich orientiertes Kunstschaffen weit über 1000 Jahre in Europa  bestimmte. Danach erschlossen die Künstler die antiken Errungenschaften wieder für ihr Schaffen (Renaissance). Der Florentiner Maler und Bildhauer Michaelangelo (1475 - 1564) postulierte: „Unsere Kunst ist die des alten Griechenland!“ Der junge Florentiner Aristokrat Pico della Mirandola (1436 – 1494) sagte in seiner berühmt gewordene Rede „Über die Würde des Menschen“: „…in der Mitte zwischen allem Erschaffenen ist der Mensch gestellt als Verbindungsglied der ganzen kreatürlichen Natur.“ Er lässt Gott zu den Menschen sprechen: „…nicht himmlisch, nicht irdisch haben wir dich geschaffen. Denn du sollst dein eigener Werkmeister und Bildner sein und dich aus dem Stoffe, der dir zusagt, FORMEN.“

Seitdem erhoben die Künstler die Mutter Natur und das Naturstudium zu ihrem neuen Inspirator bis weit in das 20. Jahrhundert hinein.

Die naheliegende Frage ist nun: wer oder was übernahm danach die Inspiration der Künstler? Es kann ja nur etwas vom Range der „Bibel“ oder der „Natur“ sein. Um darauf eine Antwort zu geben, weise ich auf den vorausgegangenen Text hin, in welchem ich die Ökonomie als die das gesamte Denken beherrschende Macht unserer Zeit bezeichne. Sie ist es, welche alles durchdringt und auch bestimmt. Doch wie kann die Sphäre der Ökonomie als Inspirationsquelle der Künste dienen? Erscheint sie uns doch geradezu als das genaue Gegenteil in ihren nach materieller Wertschöpfung strebenden Absichten. Die Ökonomie ist zweckorientiert. Der Zweck der Kunst ist ihre Zweckfreiheit. Was soll da denn zusammengehen?

 

Ich führte bereits aus, dass zur Abwendung der von Menschen selbstgemachten Klimakatastrophe ein neues Denken notwendig ist. Denken verstehe ich nicht als Ort, in oder an dem Ideen entstehen. Denken ist ein Wahrnehmungsprozess, sowie beispielsweise das Auge dem Licht gegenüber. Und nun die zentrale Frage: Wie nehmen wir die Erscheinungsweise der Ökonomie wahr, bzw. wie nehmen wir den um seine bürgerliche Existenz arbeitenden Menschen wahr? Wie nehmen wir die Wirklichkeit der Arbeit wahr? Allessamt Fragen nach der Form! All dies sei durch das Marktgeschehen bestimmt und damit beantwortet! Doch ist es tatsächlich das Marktgeschehen, welche die Form der Arbeit entscheidend bestimmt? Nein, der Markt oder der freie Wettbewerb sind es nicht. Die Form der Arbeit, ihre Wirklichkeit bildet sich aus einem anderen Verhältnis. Denn offensichtlich lässt die ArbeitsFORM den Umstand erkennen, dass niemand für sich allein arbeiten kann, sondern er darauf angewiesen ist, stets für einen anderen Menschen tätig zu sein, welcher ihm seine Arbeit abnimmt, um sie zu verbrauchen oder daran weiter zu arbeiten.

Im Prozess der Arbeit steckt anscheinend so etwas wie ein Geheimnis, welches man nicht zu öffnen vermag, weil man nicht auf die Form des Arbeitsprozesses achtet, sondern immer nur auf das Produkt (= Inhalt).

Im persönlichen Arbeitsprozess geht es deshalb immer um den Bedarf des Anderen, nie um den eigenen und auch nicht um den Bedarf des Marktes. Der Markt kommt vorrangig dann ins Spiel, wenn ich über den Bedarf des Anderen zusätzlich einen künstlichen Bedarf wecke und damit etwas herstelle, was er eigentlich nicht braucht. Die Wahrnehmungsfähigkeiten der Menschen müssen allerdings geschult und geübt werden im Erkennen der Bedürfnisse des Anderen um diese zu erfüllen. Meine eigenen Bedürfnisse wiederum werden vom Anderen  erfasst und erfüllt. Daraus ergibt sich ein völlig anderes Bild des Wirtschaftens, welches beispielsweise dazu führen würde, dass ich dann falsch für den Bedarf des Anderen arbeite, wenn ich die Felder vergifte, Natur und Klima zerstöre und den Anderen ausbeute!

Aus dieser Perspektive gesehen läuft von Beginn an in der Ökonomie alles falsch herum. Profit- und wachstumsorientiert mäht sie alles gleich und es bleibt kein Platz für die Menschen, denen es immer kälter wird und die letzte Forderung der Französischen Revolution nach „Brüderlichkeit“ in weitere Ferne rücken lässt.

Es mag auch nicht falsch sein, sich für die Rechte des arbeitenden Menschen einzusetzen. Doch viel wichtiger in unserem Sinne wäre es, wenn man ihn an dem Geist der Arbeit mittels seiner Fähigkeiten beteiligt. Zum Beispiel mit der Frage, „welches Produkt ist vernünftig herzustellen?“ Dann käme man auch voran in der Beantwortung der sozialen Frage: „wer hilft mir in der Konkurrenz gegen die nie erlahmende Kraft der Maschinen?“ Hier sei erinnert an den Aufstand der Weber und an alle folgenden Arbeiterbewegungen, die seit der Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts diese soziale Frage bis heute unbeantwortet ließ.

Bewusste Wahrnehmung muss allerdings erübt werden. Doch wo und wie? Etwa durch Achtsamkeitstraining??? Oder Selbstoptimierung durch Waldbaden und Mosshorchen? Wohl eher nicht. Allein durch das Kunstschaffen, in dem es stets um das Ringen nach der vollendeten Form durch den schöpferisch tätigen Menschen geht. 

DAS KUNSTWERK IST DIE EXTREMSTE FORM UND SUBTILSTE FORM VON GANZHEITLICHKEIT, DIE ES ÜBERHAUPT GIBT. Hierzu möchte ich darauf zurück verweisen, was ich über das Formganze bereits ausführte und dessen zentrale Bedeutung. Es geht um die ästhetische Kategorie der „Alterität“, der Andersheit des Kunstwerkes: Es zeigt stets das Andere, das Fremde und nie das Faktische, was der Fall ist. Die Alterität im Kunstwerk ist, dass Kunst sich immer mit dem Anderen beschäftigt. Es zeigt die Natur nie wie sie ist, dann wäre sie nur nachschaffendes Bemühen. Sie zeigt das Mögliche, wie etwas sein könnte, eine andere Vorstellungsweise. Daraus resultiert, dass Kunstschaffen und Kunstbetrachten immer ein Einüben in das Verstehen des Anderen ist. Fremdverstehen und Andere verstehen führt natürlich auch zu besserem Selbstverstehen, weil man im Anderen stets auch Eigenes findet, sonst könnte man sich mit dem anderen gar nicht in Beziehung setzten. So ist es bereits ein bildungspolitischer Sündenfall, den Kunstunterricht kaum noch auszuüben und damit in den Schulen das Fremdverstehen, das Verstehen der Anderheit des Anderen, der Alterität, nicht mehr praktiziert wird. Gerade für die jungen Menschen ist dadurch das Verständnis für das Fremde und für die Fremden ein entscheidendes Übungsfeld verloren gegangen. Dass dann Fremden gegenüber oftmals nur noch mit Gewalt begegnet wird und sogar Freundschaft und Gemeinschaftsgeist in den Schulklassen abhandenkommen, sollte nicht verwunderlich sein. Orientierungslosigkeit macht sich breit. All dem könnte man durch Kunst begegnen und es gehört zur wesentlichen Aufgabe der Kunstpädagogik, dieses an Kunstwerken klar zu machen: an dessen Alterität. Alterität ist geradezu das emanzipatorische Potential der Kunst.  Denn wenn man ein Verständnis entwickelt für den Anderen, für das Andere, dann ist das eine Art der Emanzipation. Kunst ist eine wesentliche Hilfe dazu.

Schon in den Schulen so vorbereitet betreten die jungen Menschen die Wirklichkeit der Arbeit mit ganz anderen Augen und sind in der Lage, sich ein völlig anderes Bild von allem zu machen. So kann Kunstunterricht auch ein wirklich politischer Unterricht sein.

All das kann die Wissenschaft und vor allem die Wissenschaft der Ökonomie nicht leisten. Sie können die Anfangsbedingungen des ökonomischen Schaffens nicht erfassen, weil sie den Bedarf des Anderen nicht zu erkennen vermögen oder nicht erkennen wollen (siehe Entwicklungsländer), sie stets von Zielvorstellungen der jeweiligen Produktionsoptimierung ausgehen und dabei die Wirklichkeit der Arbeit, deren Form, übersehen.

Aktuellstes Beispiel: gerade wurde der neue Bericht des „Welt Klima Rates“ veröffentlicht mit dem erwartbaren Fazit: dass sich die Klimakatastrophe gefährlich und schneller als angenommen verschärft, bzw. das bisherige Bemühen um Klimaschutz wieder nicht ausreichend war. Im Gegenteil! Und die Debatte endete so: alle sind überzeugt von der allerdringendsten Notwendigkeit. Doch die Frage blieb unbeantwortet: WIE gehen wir besser vor?

  • Das „Wie“ immer eine Frage nach der Form ist, versuchte ich darzustellen;
  • Das im Kunstschaffen, und nur dort gelehrt und gelernt werden kann, welche Bedeutung der Form zukommt und welch neues Mögliche immer aus ihr erwachsen kann, versuchte ich ebenfalls in der hier gebotenen Kürze zu erklären.

Natürlich wird dem kaum einer der sogenannten Experten ganz gleich aus Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik zustimmen. Alle werden diesbezüglich rasch von Wirklichkeitsfremdheit sprechen. Das ist nicht verwunderlich, weil es bislang vollkommen ungewohnt ist, künstlerisches Denken an Gestaltungsfragen der Gesellschaft zu beteiligen.

Doch die Tatsache, dass sich seit der frühen Warnung des „Club of Rome“, im Jahre 1975, überhaupt nichts zum Besseren wandelte, sondern ganz im Gegensatz, alles zum Schlechteren und ca. 45 Jahre vertan wurden allein zum Nutzen der Ökonomie und eines Wohlstandesanspruches ohne Grenzen, das heißt, ebenfalls ohne Form, müsste man von dem Vorwurf absehen und stattdessen der Weltfremdheit der Kunst die Weltfremdheit der Ökonomie anprangern.

Kunst ist stets die Form, welche der Wahrheit des Wirklichen am nächsten steht und dadurch gerade nicht weltfremd ist.

Hier gäbe es doch die Möglichkeit des Schulterschlusses von Kunst und Naturwissenschaft, indem beide ihre Wesenszüge miteinander verbinden und damit neues Denken ermöglichen. Ganz im Sinne Kandinskys, dessen Brief an Schönberg ich im vorigen Essay zitierte: „die Verwandtschaft der Dissonanzen in der Kunst….“ Die Dissonanz sei die „Konsonanz von Morgen“! Sie solle einer neuen Freiheit in der Gestaltung dienen.

Ohne die Verbindung von Kunst und Naturwissenschaft werden die Klimaziele niemals erreicht werden können. Weil wir keine Antwort finden auf das WIE wir uns einigen können. Wir finden keine gemeinsame Form und zersetzten alles durch Rechthaberei und dem daraus unvermeidlichen Streit. Nur muss einmal der unsinnig scheinende Schritt getan werden und die Kunst als eine nicht hintergehbare Gestaltungskraft der Gesellschaft auch nutzen!

So zumindest waren es die Ideen und Wünsche der Gründungsväter der Kunstakademien, z.B. in Deutschland. Dazu hier eine Textquelle zur Gründung einer der ältesten Akademien, derjenigen in München. Deren erster Generalsekretär war kein Geringerer als der Philosoph Friedrich, Wilhelm, Joseph Schelling (1775 – 1854).

Am 13. Mai 1808 wurde in München unter König Max I Joseph, die Akademie der Bildenden Künste gegründet. Sie sollte eine „wirkliche öffentliche Instanz in Sachen der Künste“ sein, zugleich eine durchaus liberale Kunstgesellschaft, in welcher „der Geist der Freiheit und des Fortschreitens rege erhalten werde“… dass sie Schülern alle Nationalitäten offen stehe… die Beziehung der Künste auf das öffentliche Leben im Blick zu haben, war eine wesentliche Verpflichtung… Der Generalsekretär sollte ein Gelehrter sein (Wissenschaftler!) der die Verbindung der Künste zum „Zeitalter“ garantieren konnte…

Zitiert nach: F. W. J. Schelling, Texte zur Philosophie der Kunst; Herausgegeben von Werner Beierwaltes, S. 3; Stuttgart 1982; P. Reclam Nr. 5777 (4).

Von diesem kulturellen Niveau sind unsere heutigen Kunstakademien keineswegs geleitet. Dort pflegt man das „Authentische“ jedes einzelnen Künstlers, in einem Verständnis der Treue zu sich selbst. Eine vollkommen falsche Sichtweise, denn das Authentische ist stets an das Kommunikative gebunden: nicht ich, sondern der/die Andere. Nicht die Treue zu sich selbst. Das ist nämlich unmöglich.


van gogh der Weber 1884

Vincent Van Gogh, „Der Weber“, 1884; Öl auf Leinwand; 67.7 x 93.2cm; Bayerische Staatsgemäldesammlungen München.


Van Gogh arbeitete als ausgebildeter Kunsthänder in London. Ihn beunruhigte es so sehr, dass er den Kunden in der Regel qualitativ schlechte Werke nur um des Geldes willen verkaufen musste, sodass er darüber moralisch verzweifelt den Beruf aufgab und sich in seinem Heimatland zum Prediger der christlichen Botschaft ausbilden ließ. Ihn beschäftigten immer dringlicher Fragen der christlichen Sozialethik innerhalb der Ausbreitung rein industriell orientierter Arbeitsprozesse. Die Verelendung der um ihre Existenz arbeitenden Menschen machte ihn rastlos. So bewegt wollte er den Menschen vor allem in den Bergwerken der Borinage unter Tage das Licht der christlichen Botschaft bringen. In seinem umfangreichen schriftlichen Werk, vor allem Briefe an seinen Bruder Theo, welches einen bedeutenden Platz in der europäischen Literatur einnimmt, äußerte er immer wieder die Not, welche aus der verlorenen Brüderlichkeit unter den Menschen sich ausbreitet.

Unter diesem Eindruck schuf er für die Moderne das Werk „Die Kartoffelesser“ (in drei Fassungen) als ein Beispiel für das Bild des „Abendmahles“. Übrigens malte er als bislang einziger Künstler ein Stillleben, in dessen Zentrum die Bibel stellte.

„Der Weber“ zeigt den arbeitenden Menschen, welcher nicht nur für sich, sondern für den Anderen arbeitet. Die dunkle Stube gibt darauf verweisend im hell erleuchtenden Fenster den Blick frei auf die arbeitende Bäuerin, die sich im Felde um die Nahrung bemüht. Als dritter Akteur im Bild erscheint hinter der Bäuerin die christliche Kirche. An dieser Stelle möchte ich an dasjenige erinnern, was ich über die ganz besondere Bedeutung der Hintergrundschicht eines Bildes erklärte am Beispiel von Werken Leonardo da Vinci im letzten Essay.

Im Neuen Testament steht geschrieben: „Ein jeder trage des Anderen Last.“ Auf diese Weise erfüllt er das Gesetz, das Christus uns gegeben hat. (Galater 6, 2). Nicht ich selbst soll die Last tragen, sondern mein Menschenbruder.

© Martin Rabe & Sibylle Laubscher